Die Zehnte Gabe: Roman
brüllte Ibrahim. Er marschierte durch das Unterdeck, bis er vor Cats Reihe stand. Dann nahm er einen großen eisernen Schlüssel von der Kette, die er am Gürtel trug, und schloss die Stange auf, an die die Gefangenen gefesselt waren. Der Mann ganz am Ende rappelte sich auf, doch der Renegat stieß ihn mit einem Fußtritt zurück. »Nicht du, Idiot! Das Mädchen.«
Cats Finger klammerten sich instinktiv um die Stange. Sie war auf das Schlimmste gefasst, und als er ihr Gesicht sah, fing er an zu lachen. »Es ist nicht, was du glaubst, dumme Gans. Der raïs verlangt nach dir.«
Irgendwie erschien ihr das noch schlimmer. »Aber warum?«, fragte sie mit kaum hörbarer Stimme. Der raïs machte ihr Angst, nicht nur wegen seiner gleichgültigen Grausamkeit gegenüber dem Prediger, sondern auch, weil sein Verhalten etwas Furchteinflößendes hatte, ja, selbst in den Augen war es zu sehen. Der Renegat schlug ihr mit dem Knauf der Peitsche auf die Knöchel.
»Lass los und tu, was man dir sagt«, knurrte er. »Der Djinn unterhält sich nicht mit mir über seine Gelüste.«
»Djinn?«
»So nennen manche von uns den Kapitän. Ein Djinn wird von Gott aus einem Feuer erschaffen, das sich nicht durch Rauch
verrät. Ein passender Name für ihn, denn die Djinn sind böse Geister, mächtig und niederträchtig. Aber du nenn ihn bloß nicht so, er würde es dir übel danken.«
Cat richtete sich unsicher auf. Es kam ihr vor, als hätte sie eine Verabredung mit dem Teufel höchstpersönlich.
An Deck warf der Mond sein düsteres Licht auf das fahle, zersplitterte Holz der Reling an Steuerbord, einen umgestürzten Mast, dessen Segel ineinander verschlungen und verhakt an Deck lagen, und die verbrannten Planken, die Feuer gefangen hatten. Eine Gruppe von Seeleuten war dabei, die Takelage zu entwirren, indem sie das Segeltuch wegschnitten und gleichzeitig versuchten, so viel wie möglich von dem wertvollen Tauwerk zu retten.
Sie passierten das Mittelschiff und kletterten die Treppe zum Achterdeck hinauf. Wo sie auch gingen, überall folgten ihnen dunkle Augen.
Auf dem weiten Oberdeck suchte Cat das Meer ab, doch von der spanischen Karavelle fand sie keine Spur. Es sah so aus, als wären sie den Spaniern am Ende entwischt. Für die Piraten musste das so etwas wie ein Sieg sein, dennoch wirkten sie still und bedrückt. Manche hatten klaffende Wunden, andere lagen stöhnend an der Seite aufgereiht. Wieder andere hockten mit ihren Perlenschnüren da und murmelten leise vor sich hin wie im Gebet.
Sie stiegen durch einen reich mit Holzschnitzereien geschmückten Niedergang nach unten. Hier flackerten Laternen und warfen Kreise von goldenem Licht auf die holzgetäfelten Wände. Sie beleuchteten Blätter und Eicheln, die in das Holz geschnitzt waren, eine Huldigung an die großen Eichen, die ihr Holz für den Bau des Schiffes hergegeben hatten. Trotz der Umstände bewunderte Cat ihre feinen Muster. Sie erinnerten sie an die flämischen Wandteppiche, die sie in der großen Halle auf dem Mount gesehen hatte. Dieselben Motive auf einem heidnischen Piratenschiff zu finden, war verwirrend.
Am Ende des Niedergangs blieb Ibrahim vor einer niedrigen Tür stehen und klopfte. Nach einer Weile tat sie sich auf, und er wechselte ein paar arabische Worte mit einem Mann. Die Tür öffnete sich weiter, Ibrahim schubste Cat hinein und schloss die Tür hinter ihr.
Es war, als hätte sie eine andere Welt betreten, eine Traumwelt. Wohin sie auch sah, überall gab es etwas zu bestaunen. Laternen aus kunstvoll ausgestanztem Messing hingen von der Decke und warfen tanzende Muster auf die scharlachroten, blauen und gelben Wollteppiche, die fein geschnitzten runden Tische mit ihrer Oberfläche aus gehämmertem Gold, den silbernen Krug, eine Reihe von prächtig verzierten Gläsern, Kästen aus Elfenbein, Silberschalen mit Räucherwerk, Seidenbehänge und die große, verzierte Wasserpfeife, die sie schon an Deck gesehen hatte. Ein kleiner Käfig baumelte von der Decke, offenbar enthielt er Singvögel, die im Moment allerdings schliefen.
»Komm näher«, befahl eine Stimme aus den Schatten, und Cats Herz machte einen Sprung.
Sie stolperte und stürzte vornüber ins Dunkel. Als sie aufschrie und die Arme ausstreckte, weil sie glaubte, auf den Holzboden zu fallen, wurde der Aufprall von einem Haufen Kissen aus bunter Wolle und Seide gedämpft. Vorsichtig richtete sie sich auf.
»Schön, dass du mir zu Füßen fällst«, fuhr die Stimme fort. »Denn ich bin Herr
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