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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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Gleichgewicht zu halten. Zu ihrem Entsetzen stellte Cat fest, dass nach zwei Wochen ohne Bewegung ihre Beine nicht einmal im Stande waren, ihren abgemagerten Körper zu tragen. Im nächsten Augenblick fiel sie über einen Mann vor ihr, der laut fluchte.
    Ibrahim nahm sie am Arm und zerrte sie wieder hoch. »Kann es mir nicht leisten, dich über Bord zu werfen, mein Täubchen. Du bist eine wertvolle Fracht«, sagte er und grinste lüstern.
    Trotzig zwang Cat ihre Muskeln zu gehorchen und schlurfte in dem schweren wollenen Gewand los, das sie ihr gegeben hatten. Die Fesseln an den Fußknöcheln schmerzten bei jedem Schritt. Jemand anders hatte die Aufgabe bekommen, ihre Reihe zu säubern.
     
    Am Ende der Leiter traf sie die frische Luft wie ein Faustschlag. Einen Augenblick fühlte sie sich schwindlig und orientierungslos. Sie musste die Augen vor der plötzlichen Helligkeit verschließen und sich auf beiden Seiten festhalten. Jemand stieß sie in den Rücken. »Geh weiter, was ist los mit dir?«
    An Deck starrte sie in die Streifen von blendendem Blau am weiten, lebendigen Himmel zwischen den hohen, lang gezogenen Zirruswolken und dann auf das endlose, von schaumiger
Gischt gekrönte Meer. Die Spiegelungen der Sonne auf dem Wasser und die weißen geblähten Segel brannten in ihren Augen, sodass sie den Blick auf die kompakte Dunkelheit des Holzes an Deck senken musste. Zwei Wochen, dachte sie - die Tage und den Fortgang der Zeit hatten sie am wechselnden Grad von Dunkelheit im Unterdeck gezählt -, zwei Wochen ohne einen Blick auf die Welt oder frische Luft zum Atmen. Sie hatte nie begriffen, was für ein Glück sie gehabt hatte, einfach nur auf Kenegie zu leben. Sich mehr zu wünschen als die einfachsten Freuden, war schierer Übermut gewesen.
    Sie stolperten an ihren Fußketten über das Deck und kippten die Flüssigkeit im Eimer über Bord (»Achtet auf die Windrichtung, wenn’s beliebt«, lachte der Renegat), zogen dann Eimer für Eimer Seewasser nach oben und schrubbten ihre schmutzige Haut und die Kleider. Das Salz brannte in den Wunden; selbst starke Männer schrien vor Schmerz auf.
    Die Mannschaft beobachtete sie. Ihre schwarzen Augen waren ebenso feindselig und verächtlich wie die der Katzen auf Kenegie, wenn sie miteinander balgten. Cat fragte sich, was sie wohl dachten: Machten sie sich über die Blässe und Kraftlosigkeit ihrer armen Gefangenen lustig? Überlegten sie, wie viel Geld sie ihnen auf den Sklavenmärkten einbringen würden, oder hatten sie ganz anderes, Schlimmeres, im Sinn? Sie versteckte sich unter dem Gewand und nutzte es sowohl als Waschlappen wie auch als Handtuch. Wie müssen sie uns verachten, dachte sie, schmutzig wie Tiere, verwanzt, schwach und krank. Sie haben uns in diesen Zustand gebracht, jetzt sind wir nicht einmal mehr Menschen, und so sehen sie uns: eine Fracht, die am Leben erhalten werden muss, damit sie ihnen Geld einbringt, trotzdem nichts anderes als Schafe. Und sie rubbelte ihre Haut ab, als könnte sich der Dreck für immer festsetzen.
    Ein plötzlicher Ruf riss sie aus diesem beinahe tranceartigen Zustand. Ein Mann am Vorderdeck stimmte einen seltsamen Singsang an.

    »Allahu akbar. Allahu akbar. Achehadou ana ilah ilallah. Achehadou ana mohammed rasoul allah. Achehadou ana mohammed rasoul allah. Haya rala salah. Haya rala salah. Haya rala falah. Haya rala falah. Qad qamatissaa. Qad qamatissaa. Allahu akbar. Allahu akbar. Laillah ilallah. Laillah ilallah…«
    Darauf ließ die gesamte Mannschaft alles stehen und liegen und eilte zu den Eimern mit Sand, die in Abständen auf dem Schiff verteilt waren. Die Männer tauchten die Hände in den Eimer und rieben den Sand zwischen den Handflächen wie Seife. Dann fuhren sie sich mit den Händen über das Gesicht, drei Mal, wie beim Waschen, nahmen eine neue Hand voll Sand und »wuschen« erst die rechte, dann die linke Hand, bis hinauf zum Ellbogen, wieder drei Mal. Cat unterbrach ihre eigene Waschung und beobachtete sie fasziniert. Als sie sich umsah, merkte sie, dass die anderen Gefangenen dasselbe taten. Es war wie in einem Mysterienspiel, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf, als ihr einfiel, wie ihr Vater sie als Kind zu den Maskenspielern mitgenommen hatte, wenn sie durch Truro kamen - etwas, was man nicht ganz verstand, ohne jedoch den Blick abwenden zu können. Die Maskenspieler hatten ihr Angst gemacht mit ihren merkwürdigen Kostümen und ihren singenden Stimmen. Der Teufel, der sich die Haut mit Asche schwarz

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