Die Zehnte Gabe: Roman
sticken?«
»Sticken?«
Cat deutete auf eins der verzierten Kissen auf dem Bett. »Stickerei.«
Wortlos schlug er das Laken beiseite.
Zwischen Brust und Hüfte war das Fleisch etwa eine Hand breit aufgerissen. Die klaffende Wunde bot einen geradezu obszönen Blick auf Muskeln und eine Schicht gelbes Fettgewebe. Bei der kleinsten Bewegung sickerte dunkles Blut heraus.
»Ist nicht alles. Nimm das Laken vom Bein.«
Cat kniete nieder und tat wie befohlen. Unter dem dicken Verband kam eine gezackte Wunde zum Vorschein, ein tiefes Loch im Schenkel.
»Diese Wunde ist von einer Muskete. Die andere von einem Schwert. Beides Spanier.« Er spuckte aus. »Mein Heilkundiger ist tot, und keiner meiner Männer kann mit einer Nadel umgehen. Du wirst mir die Wunden nähen.«
»Das … das kann ich nicht.«
»Keine Widerrede.« Seine Stimme klang hart. »Du weigerst dich, und deine Mutter stirbt.«
»Meine Mutter?«
»Jane Tregenna, nein? Ihr habt keine Ähnlichkeit, aber sie sagt, sie ist deine Mutter. Du spielst nicht mit, und sie geht über Bord.« Er ließ ihr ein paar Sekunden Zeit, um die Tragweite seiner Worte zu begreifen. »Und falls ich sterbe, werfen sie euch alle beide über Bord.«
Sie brachten ihr die Nadel des Segelmachers, dick und klobig, und harten Zwirn. Sie wies sie an, die Nadel an einem Wetzstein zu schärfen, und während sie damit beschäftigt waren, trennte sie ein paar Meter Seide von einem der Wandbehänge auf und legte das so gewonnene Garn in das siedende Wasser über der Kohlepfanne.
»Bring den Topf«, befahl der raïs und deutete auf ein eckiges Glasgefäß, das mit einem schweren Stopfen verschlossen war. »Und mach ihn auf.«
Sie nahm das Gefäß von einem der Tischchen, öffnete es und runzelte die Stirn. »Honig?«
Er nickte. »Streich ihn auf die Wunde.«
Unwillkürlich musste Cat grinsen. »Meine Großmutter machte das auch, wenn wir uns als Kinder verletzt hatten. Sie sagte, es würde eine Entzündung verhindern.«
Er hob eine Braue. »Tatsächlich? Meine jeddah hat es mir beigebracht. Mein jaddhi , mein Großvater, er hatte - wie sagt ihr … sssssssss?« Seine Hand folgte der Bewegung eines Insekts.
»Bienen. Mein Großvater hat heute noch welche.« Eine Woge von Nostalgie überschwemmte sie bei dem Gedanken an das Cottage in Veryan, winzig und gemütlich, wo ihr Großvater ein brennendes Scheit im Kamin hatte und ihre Großmutter Schinken räucherte oder Obst für den Winter einmachte. Sie hatte sie seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr gesehen, denn ihre Mutter wollte nichts mehr mit der Familie ihres Mannes zu tun haben. Sie hielt sie für Leute von niederem Stand und bezeichnete sie verächtlich als »Bauern«. Zum ersten Mal ging Cat auf, dass ihre Mutter - nicht nur in dieser Angelegenheit - unrecht hatte.
Der Honig war dick, dunkelbraun, eher fest als flüssig, ganz anders als der blassgoldene Nektar, mit dem sie zum ersten Mal ihren Namen geschrieben hatte, indem sie ihn von dem Honiglöffel auf eine Scheibe frischgebackenes Brot ihrer Großmutter hatte tropfen lassen. Sie schnupperte an dem Gefäß und fuhr zurück. Es duftete außerordentlich stark, kräftig und berauschend.
»Die … Bienen, die ihn sammeln, ernähren sich nur von wilden Bergpflanzen«, sagte der raïs , als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte. »Ist starke Magie.«
»Magie?«, schnaubte Cat, ohne sich beherrschen zu können. »So etwas gibt es nicht.«
»Du bist dir sehr sicher, wie?«
»Allerdings.«
»Und was ist mit Wundern? Oder dem Schicksal?«
Cat reckte das Kinn, sodass der Kiefer eine lange, feste Linie bildete. »Meine Mutter hat immer gesagt, dass das Schicksal in unserer eigenen Hand liegt und wir uns durchschlagen müssen, so gut wir können, denn niemand wird uns diese Aufgabe abnehmen. Als mir eine alte Ægypterin die Zukunft voraussagte, verriet sie mir, dass ich die Wiedervereinigung von Himmel und Erde sehen und meine Träume sich erfüllen würden, und jetzt bin ich hier, Gefangene auf einem Piratenschiff mit Kurs auf irgendeinen grauenhaften Ort, wo mich vermutlich nur Elend und der Tod erwarten. Deshalb: Nein, ich glaube weder an Wunder noch an das Schicksal.«
»Nur Allah besitzt den Schlüssel zu unserem qadar . Er weiß alles, er entwirft alles. Unsere Seele kann nicht bestimmen, wo sie geboren oder wann sie sterben wird - allein Allah entscheidet. Er plant für uns, und wir müssen akzeptieren, was er schickt.«
Cat hielt den Löffel über dem »magischen« Honig
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