Die Zehnte Gabe: Roman
feindselig an und berührten die Amulette, die sie um den Hals trugen. Andere zogen sie mit den Augen aus, und sie begann, sich vor dem unausweichlichen Tag zu fürchten, an dem der raïs den Kampf um sein Leben verlor.
Als Al-Andalusi schließlich das Bewusstsein verlor und anfing, im Schlaf zu reden, schickte sein Stellvertreter, ein streng dreinblickender, bärtiger Mann namens Rachid, den abtrünnigen Engländer an sein Bett, um Wache zu halten.
»Er traut dir nicht über den Weg, Kleines«, sagte Ibrahim und starrte sie lüstern an. »Er glaubt, du würdest unseren raïs vergiften.«
Cat warf ihm einen finsteren Blick zu. »Und wie soll ich das anstellen, wenn ich fragen darf?«
»Ganz einfach durch deine Anwesenheit. Du bist eine Ungläubige, für Rachid ist deine Gegenwart Gotteslästerung.«
»Dann bringt mich zurück ins Unterdeck zu meinen Leuten.«
Der Renegat lachte. »Oh, unser khodja glaubt nicht nur, dass eine schmutzige Christin die Luft in den Gemächern unseres
raïs verpestet - er ist davon überzeugt. Er hält es für eine Schande, dass Christen dieselbe Luft atmen wie der Rest der Menschheit. Ginge es nach ihm, wäre dein Kopf jetzt im Hafen von Penzance aufgespießt, zusammen mit denen der anderen Ungläubigen, die er hätte umbringen können. Und was glaubst du wohl, wie deine armen, halb verhungerten Landsleute da unten dich empfangen würden, wenn sie dich so sauber und wohl genährt sehen, mein Täubchen?« Als sie den Mund öffnete, um zu antworten, fiel er ihr ins Wort. »Ich sage dir, was sie denken werden. Sie werden dich für eine Djinnhure halten. Sie werden glauben, dass er dich die ganze Zeit geschändet hat und nur deshalb in das finstere Loch zurückschickt, weil er deinen kleinen weißen Arsch schon wieder satthat.«
Tränen schossen Cat in die Augen, nicht nur, weil er wahrscheinlich recht hatte, so ungerecht es auch war, sondern vor allem aus Abscheu vor dem stinkenden Mann, der nun dichter an sie heranrückte. Er stank nicht nur nach Schweiß und altem Urin wie alle anderen, sondern auch nach Rauch und einem durchdringenden Kraut, von dem ihr beinahe schwindlig wurde.
»Wenn er nicht mehr ist«, sagte der Renegat und deutete mit dem Kopf auf den raïs, der reglos auf dem Bett lag, »gehörst du mir. Dann mach ich all die schlimmen Sachen mit dir, die sich die Leute da unten ausmalen. Und wenn ich dich satthabe, schick ich dich nicht ins Unterdeck zurück. O nein. Ich geb dich weiter, damit du auch der übrigen Mannschaft ein wenig Erleichterung verschaffst, wenn du verstehst, was ich meine.«
Cat warf den Kopf zurück und traf ihn so hart unter dem Kinn, dass Ashab Ibrahim sich auf die Zunge biss. Blut floss. Der Renegat fluchte und holte mit geballter Faust aus.
»Dreckige Hure!«
Im gleichen Augenblick flog etwas durch die Luft - ein Bogen aus Silber -, und Ibrahim klappte mit einem Aufschrei zusammen.
In seiner rechten Schulter steckte ein kleines gebogenes Messer, dessen rote Zierquaste heftig hin- und herbaumelte.
»Etwas mehr Respekt, du Unwürdiger! Abtrünniger Sohn einer Sau, ungläubiger Feigling, der den Islam nur angenommen hat, um seine stinkende Haut zu retten! So behandelst du keine Frau, nicht auf meinem Schiff oder irgendeinem anderen aus der Flotte von Slâ!« Der raïs keuchte heiser und schimpfte in seiner eigenen Sprache weiter. Ibrahim rappelte sich in Todesangst auf und floh aus dem Zimmer. Eine dicke Blutspur blieb auf dem Boden zurück.
Al-Andalusi fiel zurück in die Kissen und rang nach Luft. »Cat’rin, lauf zur Tür und ruf nach Abdal-haqq. Lauf.«
Cat sprang auf und tat wie ihr geheißen. Der Niedergang verschluckte ihre Worte; sie rief den ungewohnten Namen noch einmal, lauter diesmal, bis die Flammen in den Wandleuchtern zuckten und das Echo ihrer Stimme von den holzgetäfelten Wänden widerhallte. Endlich hörte sie Stimmen und schnelle Schritte. Ein drittes Mal rief sie nach Abdal-haqq, und dann rannte sie zurück in die Kajüte.
Doch als sie eintrat, war der raïs tot.
Wenige Sekunden später trat der Mann, der sich Abdal-haqq nannte, geräuschlos durch die Tür. Seine lebendigen schwarzen Augen, die nicht zu dem grauen Bart und dem von Alter gezeichneten Gesicht passen wollten, erfassten die Lage auf einen Blick.
Cat kniete neben dem reglosen Körper des Piratenkapitäns. Ihr Umhang aus feiner weicher Wolle war vom Blut aus der Wunde des abtrünnigen Engländers beschmutzt, und sie sah genauso schuldbewusst aus, wie sie
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