Die Zehnte Gabe: Roman
gefasst.
»Gestern habt Ihr mich gefragt, warum ich geweint habe. Ich will es Euch sagen. Ich habe geweint, weil ich Euch nicht verstehe. Ich verstehe nicht, warum Ihr Ashab Ibrahim habt töten lassen. Ich verstehe nicht, was der ›böse Blick‹ bedeutet oder wie das Verbrennen einer Echse Euch aus dem Reich der Toten zurückgeholt hat. Ich verstehe nicht, warum Ihr uns entführt habt und warum Ihr glaubt, dass das richtig sein kann. Ich verstehe nicht, warum Ihr anständige Christen so sehr hasst. Nichts davon verstehe ich, und am allerwenigsten, warum Ihr mich hier in Eurer Kajüte haben wollt. Ich habe geweint, weil ich es gewöhnt bin, die Welt zu verstehen, in der ich lebe, und jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr.« All das brach wie ein gewaltiger Sturzbach aus ihr heraus.
Der raïs schloss die Augen, als hätte er Schmerzen. »Frauen … warum stellen sie so viele Fragen? Wir sind nicht hier, um die Welt zu verstehen. Wir sind hier, um in der Welt zu leben und dankbar zu sein. Ich bin gerade erst aufgewacht.« Er stieß einen tiefen und aufrichtigen Seufzer aus. »Ich sage dir, warum der Engländer tot ist: Weil er so tat, als wäre ich nicht mehr Herr auf meinem Schiff, als wäre ich bereits tot. Niemand darf ohne meinen Befehl meine Gefangenen schlecht behandeln.«
Cat dachte schweigend darüber nach. Dann sagte sie: »Abdal-haqq hat gesagt, er hätte den bösen Blick auf dich gerichtet und deshalb hätte er sterben müssen.«
Der raïs fuchtelte mit einem Stück Brot herum. »Abdal-haqq ist sehr klug. Wenn er der Mannschaft sagt, das wäre der Grund für seinen Tod, wird niemand meine Entscheidung in Frage stellen. Sie fürchten sich vor … wie sagen die Engländer? … Flüchen und derlei. Sie ziehen ihm einen Sack über den Kopf, so sind sie geschützt vor dem bösen Blick, und werfen ihn ins Meer.«
»Aber was bedeutet der böse Blick? Wie kann ein Blick jemanden verletzen?«
»Ein alter Berberspruch: Der böse Blick kann einen Mann ins Grab bringen und ein Kamel in den Kochtopf.«
»Ich weiß nicht, was das ist, ein Kamel.«
Al-Andalusi lachte. »Sind all deine Landsleute so unwissend? Wie soll ich dir das erklären: Ein Kamel ist ein Kamel, und jeder weiß, was es wert ist. Der böse Blick aber ist wie ein Blitz. Du siehst ihn, du fühlst ihn, und er kann dich verletzen. Er bringt Unheil oder Tod, aber du kannst ihn nie festhalten, du kannst ihn höchstens abwehren, wenn du Glück hast und Allah es so will.«
»Und das mit der Echse? War das Glück oder Allahs Wille?«
Er verdrehte die Augen. »Wortwechsel mit Frauen sind schlecht für die Gesundheit. Schon fühle ich meine Kraft wieder
schwinden. Kein Wunder, dass die Sterne am Himmel weiblich sind. Monat für Monat zermürben sie den armen Mond mit ihrem ständigen Geschwätz. Das Chamäleon ist eine starke Magie. Ob sie funktioniert oder nicht, liegt allein in Gottes Hand. Mehr kann man einem Ungläubigen nicht erklären.«
»Warum hasst Ihr uns so? Warum nennt Ihr uns Ungläubige oder Nazarener?«
»Du weißt nicht viel von der Welt, wie? Seit tausend Jahren führen Christen Krieg gegen mein Volk. Sie verfolgen uns auf grausame Art im Namen ihres Gottes. Meine Familie starb durch die Hand von Nazarenern, und nur ich blieb am Leben, um sie zu rächen.«
»Oh. Was ist passiert?«, fragte sie dann mit kaum hörbarer Stimme.
Er wandte den Blick ab. »Warum willst du das wissen?«
»Um besser zu verstehen« - sie machte eine hilflose Geste - »warum Ihr das macht, warum ich hier bin …«
Der raïs betrachtete sie aufmerksam. »Ich muss mein Tun nicht rechtfertigen. Außerdem ist das keine Geschichte für Kinder, erst recht nicht für Kinder von Nazarenern.«
»Ich bin kein Kind mehr. Ich weiß nicht mal, ob ich das bin, was Ihr Nazarener nennt.«
»Du bist Christin, nein? Anhänger des Propheten Jesus von Nazareth?«
Cat biss sich auf die Lippen. Nell und Mistress Harris hatten sie ständig wegen ihres unchristlichen Benehmens gescholten. Sie wusste selbst nicht mehr, was sie glaubte oder wer sie war. Sie war im Taufbecken von Veryan getauft worden und hatte in Zeiten der Not stille Gebete an das Jesuskind, Sohn, Vater und Heiligen Geist gerichtet. Doch das war vor dem Überfall gewesen. Sie verstand nicht, wie ein Gott, der sein Volk liebt, zulassen konnte, dass eine ganze Gemeinde während des Gebets heidnischen Piraten in die Hände fiel, dass er sie schmachten und unter solch schrecklichen Umständen sterben ließ -
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