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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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Wangen.
    »Warum weinst du?«
    Überrascht drehte sie sich zu dem raïs um, der sie beobachtete, und mit einem Mal kam sie sich nackt vor, als könnte er ihre Gedanken lesen. Verlegen wandte sie den Blick ab und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg.
    »Du weinst um den Renegat?«
    Schockiert starrte sie ihn an. »Nein, natürlich nicht.«
    »Warum dann?«
    Sie schüttelte mit einem Mal zornig den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
    »Weil du glaubtest, ich wäre tot?« In seinen Augen schimmerte ein boshafter Funke.
    »Nein!«
    »Ich sterbe, und viele Frauen weinen.« Er zögerte und beobachtete ihre Reaktion. »Ich habe eine große Familie.«
    »Wie viele Kinder?«
    Sein Ausdruck wurde hart und verschlossen. »Ich habe keine Frau und auch keine eigenen Kinder. Nur Tanten, Vettern und die Kinder meiner Vetter, für die ich sorgen muss, in Slâ und in den Bergdörfern. Viele sind abhängig von mir, und ich arbeite hart für sie. Jedes Frühjahr steche ich mit meiner Flotte in See, kapere andere Schiffe, nehme Nazarener gefangen. Sie leisten Widerstand, und ich töte sie. Im Sommer oder im Herbst kehre ich nach Hause zurück mit den Gefangenen und verkaufe sie im Souk. Anschließend teile ich das Geld mit der Mannschaft, den Geldgebern, dem marabout , meiner Familie und meiner Gemeinde. Alle gewinnen, spirituell und finanziell, vom heiligen Werk des ghuza -« Ein heftiger Hustenanfall brachte ihn zum Schweigen.
    Mit geröteten Augen sah Cat ihn an. »Ihr seid schwach und solltet schlafen.«

    »Schlafen kann ich, wenn ich tot bin. Noch lebe ich, trotz aller Anstrengung der spanischen Bastarde.« Er spuckte ausgiebig aus und erklärte dann: »Bring die Pfeife.«
    Cat warf einen Blick auf die reich verzierte Wasserpfeife. »Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre.«
    Er schnippte mit den Fingern. »Bring sie her!«
    Sein Befehlston ärgerte sie. Sie sprang auf, nahm die Pfeife und stellte sie ihm vor die Füße. »Bitte sehr, nehmt das verdammte Ding und vergiftet Eure Wunden mit dem übel riechenden Qualm! Ihr seid ein Ungeheuer und Eiferer, und es wäre mir vollkommen egal, wenn Ihr in diesem Augenblick sterben würdet!«
    Die Finger des raïs schlossen sich um den Pfeifenstiel, doch es war keine Kraft darin. Scheppernd fiel die Shisha zu Boden und zerbarst in einem Hagel aus Glas, Wasser und dem durchdringenden Geruch der Kräuter.
    Al-Andalusi fluchte in seiner grässlichen Sprache. Es klang wie eine gutturale Explosion, dann sank er schweißüberströmt in die Kissen zurück. »Ich wollte dich behalten für meinen Haushalt, aber jetzt wird mir klar … du bist kambo, dumm, du würdest nur alles zerbrechen, was schön oder kostbar ist.«
    »Ist mir recht, denn ich habe nicht die Absicht, in einem heidnischen Schweinestall als Sklavin zu dienen!«
    Er kniff die Augen zusammen. »Du willst mich beleidigen?«
    Cat entschied, dass es nicht klug wäre, genauer zu erklären, was ihre Worte bedeuteten. Stattdessen bückte sie sich und fing an, die Scherben einzusammeln, ohne auf seinen wütenden Ausdruck zu achten, doch der raïs ließ sich nicht so leicht ablenken.
    »Was ist das für ein Wort, das du gesagt hast? Was ist ein ›Stall‹?«
    Sein Blick bohrte sich durch ihren Scheitel in den Kopf. »Ein Verschlag, wo Schweine leben«, sagte sie leise und bereute ihren Gefühlsausbruch.

    »So verachtest du mich also, kleine Ungläubige? Du glaubst, ich bin ein unwissender ›Heide‹, der lebt wie ein Schwein, umgeben von Schmutz und Dreck? Vielleicht denkst du, in meinem Land wären wir alle so, nicht besser als Tiere?« Er sprach abgehackt, jedes Wort hallte scharf und schneidend in ihren Ohren nach.
    Sie schluckte. »Nein.«
    Da ertönte von oben ein gequälter Schrei, ein Todesschrei, der einen Augenblick in der Luft hing und dann plötzlich abbrach. Cat schloss die Augen. So endete das Leben von Will Martin aus Plymouth. Und wenn sie nicht Acht gab, würde Catherine aus Kenegie ihm schon sehr bald folgen.
     
    Die Schwäche des Piraten rettete sie, denn kurz darauf nickte er wieder ein und verbrachte fast den ganzen Tag und die Nacht in einem unruhigen Schlaf. Am nächsten Tag war das Fieber verschwunden, und er kam ohne die Hilfe eines verbrannten Chamäleons wieder zu sich, wie Cat erleichtert feststellte. Sie servierte ihm das Essen, das einer aus der Mannschaft bei Tagesanbruch gebracht hatte, und sah zu, wie er darin herumstocherte. Nach langer Überlegung hatte sie einen Entschluss

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