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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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ich erwartet hatte. Irgendwie hatte ich aus dem kultivierten Tonfall von Madame Rachidi entnommen, dass es sich um einen eleganten Cousin mit einem gebildeten Flair und der Fähigkeit handelte, im Eiltempo mit mir durch die Stadt zu marschieren und mir den Kopf mit allerlei geheimnisvollem Wissen zu füllen. Es sah nicht so aus, als hätte Idriss die Angewohnheit, überhaupt zu Fuß zu gehen, und sein träges Lächeln ließ auch nicht gerade auf den messerscharfen Intellekt eines erstklassigen Führers schließen. Aber schließlich hatte ich keine
Ahnung, was sich hinter der Fassade dieser Kultur versteckte. Vielleicht sollte ich mir nicht so schnell ein Urteil bilden.
    Er wirkte verwirrt, deshalb wiederholte ich meine Frage und setzte hinzu: » Idriss, le cousin de Madame Rachidi, mon guide? «
    Jetzt schüttelte er energisch den Kopf. » Ah, non, non, non, desolé, Madame. Idriss ne pouvait pas m’accompagner. Il est occupé ce soir. Moi, je suis Saïd el-Omari, aussi cousin de Madame Rachidi. «
    Noch ein Cousin von Madame Rachidi, übersetzte ich mir langsam und folgte ihm, als er mit meinen Koffern unter dem Arm losstolperte, obwohl sie Griffe und Räder hatten. Vielleicht hielt er nichts davon. Er ließ die Kofferraumklappe eines verrosteten blauen Peugeots mit offiziellem Taxischild aufschnappen, verstaute mein Gepäck, half mir auf den Rücksitz, machte eine verbotene Kehrtwendung und schoss dann auf die Hauptstraße einer Stadt, die genauso farblos und europäisch wirkte wie das Zentrum von Casablanca. Monumentale Regierungsgebäude, ein riesiges Postamt, reihenweise moderne Geschäfte, in allen Farben blühende öffentliche Parkanlagen, Geschäftshäuser, Parkplätze. Als die nichts sagenden Zeichen einer modernen City an mir vorbeirauschten, gestattete ich mir, einen Augenblick bei meiner kurzen Konversation mit Alison und Michael hängenzubleiben - wie ein Insekt an einer Venusfliegenfalle.
    Was konnten sie so Wichtiges gefunden haben, das Michael dazu bewogen hatte, nach Cornwall zurückzukehren, ganz zu schweigen von dem Angebot, meinen Flug zu bezahlen? Und was hatte er - mein Magen zog sich zusammen - Anna alles erzählt? Bevor ich London verließ, hatte ich im Wissen um die Gefahren, in die sich ein Reisender begibt, das Buch in einem Copyshop in Putney sorgfältig Seite für Seite fotokopiert. Ich hatte es so flach wie möglich hingelegt, ohne den Rücken zu beschädigen, und die beste Grafikeinstellung benutzt, die das Gerät zu bieten hatte, um die weiche Bleistiftschrift wiederzugeben. Ich hatte mehrere Versuche gebraucht, eine ordentliche
Portion Kopfzerbrechen, mehr als eine Stunde und annähernd zehn Pfund, aber der daraus resultierende Seelenfrieden hatte sowohl Kosten als auch Mühe gelohnt. Eine vorsichtigere Person als ich hätte vermutlich das Original zuhause gelassen und die Kopie mitgenommen, doch die Vorstellung, mich von dem Gegenstand selbst zu trennen, war mir unerträglich, deshalb hatte ich nur die Kopie bei meinem Anwalt hinterlegt.
    Meine Hand wanderte zu der Handtasche auf meinem Schoß. Sie stahl sich hinein und strich über den Einband des Büchleins. Ich habe mich oft gefragt, ob Tierhalter ihre Lieblinge streicheln, um sich selbst oder den Tieren einen Gefallen zu tun. Jetzt besänftigte mich die Berührung des weichen Kalbsleders; es war so beruhigend solide und präsent, und deshalb hegte ich den Verdacht, dass Ersteres zutraf. Und so hielt ich Catherines Buch an die Brust gedrückt, als wir die moderne Stadt durch einen großen Torbogen verließen und die bröckligen Terrakottamauern der alten Medina vor uns hatten.
    Sofort verrenkte ich mir beinahe den Hals, und alle Gedanken an England verflogen. Dies war wirklich fremdes Territorium. Überall verstopften Menschenmassen die Straßen - alte Männer mit Kapuzengewändern, verschleierte Frauen, junge Männer in einem Kleidermix, der von regelrecht mittelalterlich bis hin zu den extraweiten Jeans und den üblichen Erkennungszeichen der klassischen Hip-Hop-Kultur reichte. Musik hing in der Luft, rhythmisch und eindringlich, traditionelle nordafrikanische Stimmen vermischten sich mit gelegentlichen Fetzen von pulsierenden Drums. Das Taxi schob sich im Schneckentempo durch den Strom der Menschen auf Fahrrädern, Mopeds und Eselskarren, was mir einen privilegierten Blick auf die Marktstände ermöglichte, die ihre Produkte im Übermaß zur Schau stellten, auf schmale Gassen, hohe, fensterlose Häuser mit reich verzierten

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