Die zehnte Kammer
sich doch erst einmal. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
Luc blieb mit vor der Brust verschränkten Armen stehen. »Ich will Sara sehen.«
»Das werden Sie, glauben Sie mir. Aber erst muss ich mit Ihnen reden.«
»Geht es ihr gut?«
»Ja. Nehmen Sie jetzt bitte Platz?«
Er gab nach, setzte sich stocksteif in den Sessel und blickte sie mit verärgerter Miene an.
»Wollen Sie nicht doch etwas trinken?«, fragte Odile.
»Nein, nichts.«
Sie seufzte und nahm neben ihm auf einem mit demselben Stoff bezogenen Sofa Platz. Sie presste ihre schlanken Beine aneinander und zündete sich eine Zigarette an. »Sie wollen bestimmt keine, nicht wahr? Ich habe Sie nie rauchen sehen.«
Er gab keine Antwort.
Odile nahm einen tiefen Zug. »Das ist eine schreckliche Angewohnheit, aber bisher hat es mir nicht geschadet, soweit ich das sagen kann.«
»Was wollen Sie?«, fragte er.
»Ich will über Hugo reden.«
Was wollte sie?, fragte er sich. Vergebung? »Es war kein Unfall, nicht wahr?«
Sie aschte ihre Zigarette ab. »Doch. Es war ein Unfall.«
»Aber er starb nicht in seinem Wagen.«
Odiles schwarze Augenbrauen hoben sich erstaunt. »Woher wissen Sie das?«
»Weil er noch ein Foto mit seinem Handy aufgenommen hat, als er eigentlich schon hätte tot sein müssen.«
»Was für ein Foto?«
»Ein Gemälde.«
»Ach so.« Ihr Gesicht verschwand für einen Augenblick hinter einer bläulichen Rauchwolke. »Bei diesen Geschichten ist es einfach nicht möglich, auf jedes kleine Detail zu achten. Irgendwas entgeht einem immer.«
»War es das, was Hugo für Sie war? Ein kleines Detail?«
»Nein! Ich mochte ihn wirklich.«
»Und was ist dann passiert?«
»Er kam völlig unerwartet hierher zu mir. Unten war nicht abgesperrt, und er ist einfach reingegangen. Er hat Sachen gesehen, die er nicht hätte sehen dürfen, also hat Jacques ihn niedergeschlagen. Aber er hat zu fest zugeschlagen. Es war ein Unfall. Ich mochte Hugo. Wir hätten eine schöne Zeit miteinander verbringen können und viel Spaß gehabt, vielleicht auch mehr.«
»Und was war dann? Haben Sie ihn in seinen Wagen getragen und gegen den Baum gefahren?«
»Nicht ich. Die Männer.«
»Sie haben meinen Freund getötet.«
Sie ging nicht auf seinen Vorwurf ein. »Er hat nicht gelitten. Es war ein schneller Tod. Sauber, schmerzlos. Es tut mir trotzdem leid, dass er tot ist, das müssen Sie mir glauben, Luc.«
Luc griff in seine Jeanstasche. Sie verfolgte seine Hand genau, als befürchtete sie, er könne eine Waffe ziehen. Es war ein Stück Papier, das er auseinanderfaltete, auf seinem Oberschenkel glatt strich und ihr reichte. Odile drückte ihre Zigarette aus und musterte das Blatt. Es war die Fotokopie eines Bildes, und Odile sah sich genau an, wer darauf zu sehen war. Einen Augenblick lang schien sie sich in Erinnerungen zu verlieren.
»Diese Frau da sieht so aus wie Sie«, sagte Luc und brachte Odile damit in die Gegenwart zurück.
Sie lächelte. »Sehen Sie nur, wie groß de Gaulle war! Was für ein Bild von einem Mann. Er hat mich dreimal geküsst. Ich kann noch immer seine Lippen spüren. Sie waren hart.«
Luc beugte sich vor. »Okay, hören wir auf, uns etwas vorzumachen. Wie alt sind Sie?«
Odile zündete sich eine weitere Zigarette an und blickte den Rauchschwaden nach, die hinauf zu den alten Deckenbalken stiegen. »Wenn man es in Jahren misst, bin ich vielleicht alt«, erwiderte sie. »Aber innerlich fühle ich mich jung, und das ist alles, was zählt.«
Er fragte sie noch einmal: »Wie alt sind Sie, Odile?«
»Das werde ich Ihnen sagen, Luc. Ich werde Ihnen alles sagen, was Sie wissen wollen. Deshalb sind Sie ja hier. Damit Sie verstehen. Wir haben einige böse Dinge gemacht, aber nur aus der Not heraus. Ich bin kein Ungeheuer, und es ist mir wichtig, dass Sie das begreifen. Wir haben Großes für Frankreich getan. Wir sind Patrioten. Wir haben es verdient, in Ruhe gelassen zu werden.«
Sie stand auf und ging ruhelos im Zimmer auf und ab. Während sie sich wieder eine Zigarette ansteckte, fragte sie Luc, ob er nicht doch etwas trinken wolle, und diesmal nahm er an, hauptsächlich, um zu sehen, ob sie auch wirklich allein waren. Odile hatte nichts dagegen, dass er ihr in die Küche folgte. An der Wand über dem Küchentisch sah Luc einen hellen, rechteckigen Fleck, als ob dort lange Zeit ein Bild gehangen hätte. Sie bemerkte seine Blicke, sagte aber nichts. Odile goss zwei Gläser Weinbrand ein und ging zurück ins Wohnzimmer, wobei
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