Die zehnte Kammer
wegen Odiles losem Mundwerk vergessen und nach Ruac zurückkehren.
Niemand wusste genau, wann und wo der Funke geschlagen würde, der das Pulverfass explodieren ließ, zu dem Europa mit seinen Militärbündnissen, Territorialansprüchen und dem wachsenden Misstrauen zwischen den Nationen geworden war.
Am 28. Juni 1914 war es dann so weit, als Gavrilo Princip, ein bosnisch-serbischer Student, den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo ermordete. Wenn dieser Vorfall den Krieg nicht verursacht hätte, wäre es ein anderer gewesen, die europäische Katastrophe war unvermeidbar geworden.
Odile hatte sich einer Gruppe von Künstlern und Schriftstellern in Montmartre angeschlossen. Als die jungen Männer in ihrem Kreis in den Krieg zogen, zog sie in das schmuddelige Atelier eines alten, alkoholsüchtigen Malers mit einem kranken Bein, der sich mit Taxifahren über Wasser hielt. Es war eine Zeit der Gefahr und der düsteren Vorahnungen. Die Deutschen waren auf dem Vormarsch nach Paris. Odile jedoch, ein Mädchen vom Land, das in einem abgeschotteten Dorf im Périgord aufgewachsen war, liebte die hektische Aufregung, die die große Stadt ergriffen hatte.
Ende August 1914 hatten die Deutschen die französische Armee und das britische Expeditionskorps bis an das Flüsschen Marne östlich von Paris zurückgedrängt. Zwei starke deutsche Armeen, die Belgien im Handstreich genommen hatten, rückten immer näher auf die Hauptstadt zu.
Am 6. September, als die Deutschen kurz davor waren, die letzte Verteidigungslinie der 6. französischen Armee zu durchbrechen, schickte diese einen Hilferuf an die Pariser Garnisonen. Die 7. Division war bereit, ihr zu Hilfe zu kommen, aber die Transportfahrzeuge des Militärs waren woanders im Einsatz. In dieser Notlage kam der Stadtkommandant von Paris auf die Idee, die Pariser Taxis für den Transport der Truppen zu rekrutieren.
Der Ruf ging hinaus an die Pariser Taxichauffeure, binnen weniger Stunden bildeten sie einen langen Konvoi auf der Esplanade des Invalides. Als Odile davon hörte, war ihr Freund so betrunken, dass er nicht fahren konnte. Also übernahm sie das. Zur Hölle mit dem Kerl! Die Deutschen kamen, und sie wusste, wie man Auto fuhr – so viel hatte sie von ihrem armseligen Liebhaber gelernt. Das rote Renault-Taxi mit seinen gelben Speichenrädern, eines der meistgefahrenen Exemplare auf den Straßen von Paris, stand fahrbereit vor dem Haus. Also setzte sie sich hinters Lenkrad und schloss sich dem Konvoi an.
Sie mochte die einzige weibliche Fahrerin an diesem Tag gewesen sein, oder auch nicht; sie jedenfalls glaubte es. Die Kolonne der Taxis fuhr leer nach Dammartin, wo sie in der Abenddämmerung an einem Gleisanschluss die Infanteristen aufnahm. Jeweils fünf Mann drängten sich in ein Taxi, das sich dann ohne Licht auf den Weg Richtung Front machte.
Die Jungs, die Odile in ihrem Taxi transportierte, johlten die ganze Fahrt über und brüllten ihr Glück so laut herbei, dass die Deutschen sie fast hören konnten. Als sie ausstiegen, gab Odile jedem von ihnen einen Abschiedskuss und ließ sich von jedem an die Brust drücken. Dann wendete sie, und als sie wieder losfahren wollte, explodierte in nächster Nähe eine Salve deutscher Artilleriegranaten.
Odile sah grelle Lichtblitze und hörte ein ohrenbetäubendes Knallen. Brocken feuchten Erdreichs flogen in ihr offenes Fahrerhaus und klatschten ihr an die Kleidung und in die Haare. Als sie an sich hinabblickte, sah sie auf einmal eine blutige Hand auf ihrem Schoß liegen. Odile nahm sie. Sie fühlte sich an wie die warme Hand eines Jungen, die man bei einem Rendezvous verstohlen hielt. Odile warf sie aus dem Wagen und hoffte, dass sie nicht einem der Jungs gehört hatte, die soeben aus ihrem Taxi ausgestiegen waren. Sie gab Gas und fuhr zurück nach Paris, um die nächste Fuhre zu holen.
In dieser Nacht brachten die Pariser Taxis viertausend Soldaten an die Front. Diese Verstärkungen waren es, die das Blatt wendeten und, wie jeder wusste, Paris und ganz Frankreich retteten.
Luc sollte wissen, dass Odile damals dabei gewesen war.
Nach dieser Nacht blieb Odile an der Front. Wochenlang half sie den Krankenschwestern in den Militärlazaretten bei der Pflege der Verwundeten. Schließlich bekam sie ein Fieber, an dem sie fast gestorben wäre, und schleppte sich erschöpft und zutiefst erschüttert von dem Grauen, das sie an der Front gesehen hatte, zurück nach Ruac. Sie ließ sich von ihrer
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