Die zehnte Kammer
sie die Flasche mitnahm. Als Luc wieder in dem Sessel saß, nahm er erst einen Schluck, nachdem auch Odile getrunken hatte.
Noch bevor sie mit ihrer Erzählung fertig war, bat Luc um ein weiteres Glas.
Odiles erste klare Erinnerung an ihre Kindheit war, wie sie von den im ersten Stock gelegenen Wohnräumen hinunter ins Café ihres Vaters stieg.
Die Treppe verband die Küche der Wohnung mit der des Cafés, und zwei Küchen zu haben hatte Odile als Kind fasziniert. Kein anderes Haus in Ruac hatte zwei Küchen.
Odile hatte oben in ihrem Zimmer mit ihren Puppen gespielt, als sie zweimal hintereinander einen lauten Knall hörte. Die Geräusche hatten sie erschreckt, aber auch neugierig gemacht, und sie ging hinunter, um nachzusehen, was da los war.
Odile war ein hübsches, kleines Mädchen mit lockigen, schwarzen Haaren, aber die Männer unten im Café bemerkten sie erst, als sie schon eine Weile an der Tür zur Küche gestanden und alles mitbekommen hatte.
Sie hatte oft tote Tiere gesehen, geschlachtete Rinder und Schweine und einmal sogar ein Pferd, dem man den Gnadenschuss gegeben hatte. Deshalb empfand sie bei dem blutigen Anblick auf dem Boden des Cafés eher Neugier als Ekel oder Furcht.
Besonders interessierte sie der blonde, junge Mann, der auf dem Boden lag und dessen Gesicht trotz des Kopfschusses unversehrt war. Seine blauen Augen standen offen und funkelten noch immer so, als wäre eine letzte Spur von Leben in ihnen. Es waren freundliche Augen, und er hatte ein nettes Gesicht. Odile hätte gerne mit ihm gespielt. Der andere Mann sah alt und grob aus, wie die Männer im Dorf, und in seiner Stirn klaffte ein blutendes Loch.
Ihr Vater bemerkte sie als Erster. »Odile! Was, zum Teufel, machst du denn hier? Scher dich sofort wieder raus!« Odile blieb wie angewurzelt stehen, bis Bonnet sie mit seinen schwieligen Händen packte und die Treppe hochtrug. Sie erinnerte sich noch an den Geruch seiner Pomade und den Anblick seiner langen Koteletten. Er warf sie auf ihr Bett und gab ihr einen Klaps auf den Po, bevor er seine Frau rief und ihr sagte, sie solle sich um ihre Tochter kümmern.
Das war 1899. Odile war vier Jahre alt.
Sie erinnerte sich daran, wie man sie mit in die Höhle genommen hatte, kurz nachdem die Fremden erschossen worden waren. Ihr Vater und ein paar Männer aus dem Ort waren schon dort, und andere hielten entlang des Weges Wache, damit sich nicht durch Zufall irgendwelche Fremden in der Gegend verirrten. Die Bewohner des Ortes durften die Höhle noch einmal sehen, bevor sie für immer zugemauert wurde.
Als Odiles Vater sie den steilen Weg hinauftrug, hielt er sie zärtlicher als sonst und erzählte den ganzen Weg über, was für schöne Bilder sie in der Höhle sehen würde.
Odile erinnerte sich an das zischende Geräusch der Benzinlampe und an die farbenfrohen Tiere, die in ihrem Licht aus der Dunkelheit aufgetaucht waren. Sie erinnerte sich auch an den riesigen Vogelmann, von dem die Erwachsenen geglaubt hatten, er würde ihr Angst einjagen, was er aber dann überhaupt nicht tat.
Und sie erinnerte sich an ihre Mutter, die sie fest an ihren Schoß drückte, damit sie nicht vom Felssims fiel, während die Männer vor dem Eingang der Höhle die Mauer aus Felsgestein errichteten, die sie für immer vor den Augen neugieriger Wanderer verbergen sollte.
Odile war ein rebellisches Kind. Während die anderen Mädchen das Leben im Dorf von Anfang an akzeptierten und im Strom des täglichen Lebens mitschwammen, war Odile von klein auf von Büchern und Zeitschriften fasziniert und damit eines der wenigen Kinder im Ort, die gerne lasen. Kurz nach ihrer Geburt erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand von dem schwarzhaarigen Kanadier, der neun Monate zuvor nach Ruac gekommen war. War der nicht eine Art Lehrer gewesen? Was war überhaupt aus ihm geworden? Die Männer prusteten bei dieser Frage meistens los und redeten dann über Duvals dicke Schweine und Frühstücksspeck mit kanadischem Geschmack.
Als Odile achtzehn wurde, kurz, bevor man sie in das Geheimnis einweihte, rannte sie fort nach Paris und wollte frei sein. Aber diese Freiheit war so schwer zu fassen wie ein Schmetterling, der vor einer Felswand herumflatterte. Ihr Vater und sein bester Freund, der Dorfarzt Edmond Pelay, kamen, um sie zu holen, aber die Stadt war groß, und sie wussten nicht, wo Odile sich versteckte. Außerdem braute sich ein Unwetter über Europa zusammen. Schließlich mussten die beiden ihre Sorgen
Weitere Kostenlose Bücher