Die zehnte Kammer
Mutter in ihr altes Bett packen, und als sie unter der weichen, warmen Daunendecke lag, brach sie zum ersten Mal seit Jahren in heiße Tränen aus.
Ihr Vater redete erst mit ihr, als er sicher war, dass sie nicht zusammenbrechen würde. Er hielt nicht viel von weiblichen Gefühlswallungen und hatte nur zwei barsche Fragen an sie: »Bist du bereit, wirklich zu uns zu gehören? Bist du bereit, in unseren Kreis aufgenommen zu werden?«
Was Odile von der Welt gesehen hatte, reichte für den Rest ihres Lebens, und außerdem war Ruac weit weg vom Wahnsinn der Schützengräben.
»Ich bin bereit«, erwiderte sie.
Es dauerte nicht lange, bis der nächste Krieg kam. Diesmal waren die Deutschen erfolgreich und besetzten einen großen Teil Frankreichs, und die Bewohner von Ruac konnten sie nicht mehr ignorieren. Bonnet war nun Bürgermeister. Sein Vater, der letzte Bürgermeister, starb kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.
Als der neue Bürgermeister die Todesurkunde seines Vaters mit dessen altem dickem Füller unterschrieb, fälschte er darauf das Geburtsdatum, so, wie es sein Vater viele Jahre lang getan hatte. Der alte Bonnet wurde auf dem Dorffriedhof begraben, auf dem es, am Alter des Ortes gemessen, erstaunlich wenige Grabsteine gab.
Außerdem trugen die Steine nur die Namen der Verstorbenen und kein Geburts-oder Todesdatum. Seit man den ziemlich abseits hinter einem Bauernhof gelegenen neuen Friedhof angelegt hatte, galt in Ruac diese Sitte, die bisher noch keinem Fremden aufgefallen war.
Zur Zeit der deutschen Besatzung bildete der Ort seine eigene Partisanengruppe, die aber nur locker mit der Résistance verbunden war.
De Gaulles Stab in Algerien versuchte, etwas mehr Kontrolle über ihre Aktionen zu erlangen. Sie gaben Bonnets Bande den Codenamen Squad 70 und schickten ihnen mehrmals chiffrierte Befehle. Wenn diese allerdings bei den geheimen Treffen der Gruppe verlesen wurden, sagte Bürgermeister Bonnet, der gleichzeitig der Anführer war, immer: »Das sind unsere Prioritäten: erstens Ruac, zweitens Ruac, drittens Ruac«, woraufhin meistens irgendein Witzbold »Und viertens Frankreich« rief und damit den einen oder anderen Lacher erntete.
Weil Odiles Erfahrungen aus dem ersten Krieg Gold wert waren, gestattete ihr Vater ihr widerwillig, zusammen mit ihrem Bruder Jacques an einigen ihrer Überfälle teilzunehmen. Beide waren stark und gesund, flink und sportlich. Und wenn Bonnet seine Erlaubnis nicht gegeben hätte, wäre Odile weggerannt und hätte sich einer anderen Maquisgruppe angeschlossen.
Bonnet und Dr. Pelay waren ein gutes Gespann. Während Bonnet ein wortkarger, aber tatkräftiger Mann war, konnte Pelay mit seiner Redegewandtheit die Leute im Dorf, die alle seine Patienten waren, besser überzeugen. Ihre Partisanengruppe stand rasch in dem Ruf, eine der schlagkräftigsten und rücksichtslosesten zu sein. Es wurde ihnen nachgesagt, dass sie die Boches mit einer fast unmenschlichen Grausamkeit angriffen und töteten. Die SS-Panzer-Division »Das Reich«, deren Aufgabe es war, die Dordogne zu kontrollieren, fürchtete diese Gruppe, die die von ihr abgeschlachteten deutschen Soldaten als blutige Klumpen Fleisch zurückließ. Für einen ihrer bedeutendsten Einsätze hatte es sich Bonnet in den Kopf gesetzt, Vergeltung für ein Massaker an französischen Zivilisten im nahen Dorf Saint-Julien zu üben. Auf der Suche nach Partisanen, die sich angeblich in den nahen Wäldern versteckt hielten, hatte eine Panzereinheit den Ort umstellt und alle Männer auf dem Grundstück der Dorfschule zusammengetrieben, um Informationen über den Aufenthalt der RésistanceKämpfer aus ihnen herauszupressen. Als man ihnen keine gab, wurden alle siebzehn, darunter ein vierzehnjähriger Junge, der die Hand seines Großvaters hielt, eingeschlossen und mit Genickschuss hingerichtet.
Zwei Wochen später nahm die Résistance fünfzig Kilometer westlich von Bergerac achtundzwanzig Deutsche gefangen und brachte sie in die Davoust-Kaserne in Bergerac, eine Hochburg der Résistance.
An einem Sonntag erschienen Bonnet und Pelay in der Kaserne und nahmen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen siebzehn deutsche Gefangene mit, die sie auf einen LKW verluden. Auf der Fahrt von Bergerac nach Saint-Julien wurden die Deutschen von den Partisanen aus Ruac erniedrigt und gequält.
Als die Gefangenen auf den gleichen Schulhof gebracht wurden, auf dem die SS zuvor die Zivilisten massakriert hatte, wussten sie, was sie für ein
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