Die zehnte Kammer
gegangen ist.«
Als Barthomieu die Wand frisch verputzt hatte, hörte er draußen Pferde wiehern und Hunde bellen. Sie waren da, um ihn zu holen. Um sie alle zu holen.
Barthomieu eilte zur Kirche, um rasch noch ein Gebet zu sprechen, bevor man ihn fortbringen würde, einem ungewissen Schicksal entgegen.
Während die Soldaten ins Kloster eintraten, rannte einer der Mönche so schnell er konnte durch das hohe, mondbeschienene Gras der Wiese hinter der Abtei. Er hatte seine Kutte und sein Kruzifix abgeworfen und trug die Arbeitskleidung eines einfachen Schmieds. Er hatte vor, sich am Fluss zu verstecken und sich nach Tagesanbruch den Einwohnern von Ruac als fleißiger, geschickter und gottesfürchtiger Handwerker anzudienen, der in vielerlei Hinsicht ein Gewinn für ihre Gemeinde wäre.
Und wenn sie ihn nicht auf Anhieb in ihre Gemeinschaft aufnehmen wollten, würde er ihnen ein Geheimnis verraten, das sie bestimmt interessieren würde. Davon ging Michel de Bonnet, vormals Infirmarius der Abtei von Ruac, zumindest aus.
ZWEIUNDDREISSIG
Donnerstagabend
Als Isaak mit dem Vorlesen des Manuskripts fertig war, herrsche Stille am anderen Ende der Leitung. »Sind Sie noch da, Luc?«
Lucs Taxi stand ein paar Blocks vor dem Hotel im Stau, und vor seinen Fenstern hasteten Menschen auf dem Heimweg von der Arbeit die Gehsteige entlang.
»Ja, ich bin hier.«
In seinem Kopf blitzten nacheinander unterschiedliche Bilder und Gedanken auf.
Der Wisent von Ruac.
Saras langer Hals.
Der Wagen, der in einer dunklen Straße in Cambridge auf sie zugerast war.
Pierre, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden der Höhle lag.
Zweihundertzwanzig Jahre.
Tempelritter.
Das eingeprägte Bildnis des heiligen Bernhard auf einem roten Ledereinband des Manuskripts.
Der Rauchpilz einer Explosion, der hinter den Häusern langsam in den Himmel stieg.
Picratol.
Hugos lachendes Gesicht.
Der tote Hugo im Autowrack.
Zvis grässlich verdrehter Leichnam.
Bonnets grinsendes Gesicht.
Die zehnte Kammer.
Sara.
Plötzlich fügte sich alles zusammen. So ein Gefühl hatten Mathematiker, wenn sie nach langem Rechnen die Lösung einer komplizierten Gleichung fanden und auf ihren Block schwungvoll die Buchstaben QED schrieben. Quod erat demonstrandum.
Es ist bewiesen.
»Haben Sie ein Auto?«, fragte Luc.
»Ja, natürlich.«
»Und würden Sie es mir leihen?«
Lucs Handy vibrierte in seiner Hand. Ein zweiter Anruf.
Er nahm das Handy einen Augenblick vom Ohr und las auf dem Display den Namen des Anrufers.
Sara Mallory
Sein Herz schlug wie wild, und er drückte auf den »Gespräch annehmen« -Knopf, ohne Isaak vorzuwarnen.
»Sara!«
Stille. Dann eine Männerstimme. Eine alte Männerstimme.
»Wir haben sie.«
Luc erkannte sofort, wer dran war.
»Was wollen Sie?«
»Reden. Mehr nicht. Dann lassen wir sie laufen. Und Sie auch. Es gibt Dinge, die Sie verstehen müssen.«
»Geben Sie mir Sara.«
Luc hörte gedämpfte Geräusche und wartete.
»Luc?« Es war Sara.
»Geht es dir gut?«
Sie klang verängstigt. »Bitte hilf mir.«
Der Mann kam zurück an den Apparat. »So. Jetzt haben Sie mit ihr gesprochen.«
»Wenn Sie ihr etwas antun, bringe ich Sie um. Verlassen Sie sich drauf.« Der Taxifahrer warf Luc im Rückspiegel einen erstaunten Blick zu, kümmerte sich dann aber wieder um seine Angelegenheiten.
Der Mann am Telefon schlug einen höhnischen Ton an. »Das würde ich Ihnen sogar zutrauen. Was ist nun? Kommen Sie zu uns?«
»Ist Sara verletzt?«
»Nein, wo denken Sie hin? Wir haben uns wie Gentlemen benommen.«
»Wehe, Sie lügen mich an.«
Der Mann ging nicht darauf ein. »Ich werde Ihnen jetzt sagen, wo Sie uns treffen können.«
»Ich weiß, wo Sie sind.«
»Umso besser. Kommen Sie Punkt Mitternacht. Und zwar allein. Wenn Sie die Polizei oder sonst irgendwen mitbringen, stirbt Professor Mallory einen qualvollen Tod – und Sie auch. Und Ihre Höhle werden wir sprengen, verlassen Sie sich drauf. Ich mache keine leeren Drohungen.«
Isaak ließ Luc eine halbe Stunde lang allein in seinem Arbeitszimmer, während er seinen Kindern bei den Hausaufgaben half. Isaaks Frau kam kurz herein, um Kaffee anzubieten, aber Luc war so ins Schreiben vertieft, dass er kaum Zeit hatte abzulehnen. Es war kein geschliffener Brief, eher eine skizzenhafte Aufstellung mit unvollständigen Sätzen und vielen Abkürzungen. Er hätte seine Gedanken gern besser formuliert, aber dazu blieb jetzt keine Zeit.
Er druckte den Text auf Isaaks
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