Die zehnte Kammer
wunderbare Ausblicke. Weil sein Freund kein erfahrener Wanderer war, schlug Luc ein gemächliches Tempo an und sorgte an schwierigen Stellen dafür, dass Hugo gut folgen konnte.
Vor fünfzehn Jahren war er diesen Weg schon einmal gegangen, weshalb er ihn noch dunkel in Erinnerung hatte. Damals hatte er hier eine eher halbherzige Erkundungstour unternommen und Ausschau nach Höhlen und prähistorischen Unterschlüpfen gehalten. Von denen musste es nach Ansicht der Fachwelt in dieser Gegend noch einige bisher unentdeckte geben.
Bei den Vorbereitungen der Erkundungstour mit Hugo hatte Luc sich noch einmal seine alten Aufzeichnungen über das Gebiet um Ruac angesehen. Sie waren nicht sonderlich aufschlussreich, weil Luc im Jahr nach seiner Doktorarbeit mehr zur Erholung hergekommen war. Zwei Tage lang war er am Ufer der Vézère entlanggewandert und hatte in seinen rasch hingekritzelten Notizen vermerkt, dass er Bussarde und einen Schwarzen Milan beobachtet hatte. Auch über die Qualität des mitgebrachten Essens hatte er sich ausgelassen, aber irgendwelche archäologischen Funde wurden mit keinem einzigen Wort erwähnt. In der Rückschau erinnerte er sich nur noch daran, dass er in jenem Sommer eine gewisse Leichtigkeit empfunden hatte. Wie immer, wenn er einen Lebensabschnitt beendete und einen anderen begann. Damals war sein Studium endgültig abgeschlossen gewesen, und seine Professur hatte er noch nicht angetreten. Noch heute konnte er sich gut daran erinnern, was für ein unbeschwertes, freies Gefühl das gewesen war.
Bei den Recherchen für die Exkursion mit Hugo hatte Luc herausgefunden, dass ein Kollege aus Lyon vor mehreren Jahren das Vézèretal vom Hubschrauber aus erkundet hatte. Dessen Beobachtungen waren vermutlich weitaus wertvoller als die Notizen, die Luc sich selbst vor Jahren gemacht hatte, weshalb er den Kollegen gebeten hatte, ihm die dabei entstandenen Fotos und Karten per Mail zuzuschicken.
Sobald sie bei ihm eingetroffen waren, hatte er sie genauestens mit der Karte von Frater Barthomieu verglichen in der Hoffnung, auf ihnen irgendetwas Besonderes zu entdecken – einen Wasserfall vielleicht oder Felsspalten und Höhlenöffnungen, aber ebenso wie der Archäologe aus Lyon hatte er auf den Bildern nichts Interessantes finden können.
Als sie eine gute Stunde unterwegs waren, machten die beiden Männer eine Pause und tranken aus den mitgebrachten Flaschen etwas Mineralwasser. Hugo ließ den Rucksack von seinen Schultern gleiten und lehnte sich mit dem Rücken an die Felswand, wobei er peinlich darauf achtete, sich seine neue Trekkinghose nicht schmutzig zu machen. Er zündete sich einen Zigarillo an und machte zum ersten Mal an diesem Nachmittag ein zufriedenes Gesicht. Luc blieb stehen und blinzelte in der Nachmittagssonne, während er die Kopie der Karte aus seiner hinteren Jeanstasche zog und sie noch einmal genau studierte.
Hugo verzog das Gesicht. »Jetzt, wo ich hier bin, wird mir erst klar, wie sinnlos dieses Unterfangen ist. Wir können weder die Felsen unter uns noch die über uns erkennen, wie sollen wir da einen Höhleneingang finden? Das hättest du mir auch vorher sagen können.«
Luc hatte dafür nur ein Achselzucken übrig. »Diese Karte hier ist der Schlüssel«, sagte er. »Wenn sie stimmt, finden wir bestimmt etwas, und falls nicht, haben wir wenigstens unser Wochenpensum an frischer Luft getankt und uns mal wieder ausgiebig körperlich betätigt. Was willst du mehr von einer Männerfreundschaft?«
»So was brauch ich nicht«, erwiderte Hugo gereizt. »Mir ist heiß, ich bin müde, und meine neuen Stiefel drücken fürchterlich. Am liebsten würde ich jetzt nach Hause gehen.«
»Aber wir haben doch gerade erst angefangen. Entspann dich und genieß den Ausflug. Habe ich dir eigentlich schon gesagt, dass deine Stiefel echt toll aussehen?«
»Schön, dass es dir auffällt. Also, was sagt dir die Karte, Herr Professor?«
»Noch nichts«, antwortete Luc geduldig. »Das Kloster, das Dorf und der Fluss haben uns erst mal eine grobe Orientierung verschafft, jetzt haben wir noch zwei markante Punkte, an die wir uns halten können: den Baum und den Wasserfall. Der Baum hat sicher nicht überlebt, also bleibt uns nur der Wasserfall. Was hältst du davon, wenn wir uns auf die Suche danach machen?«
Im Lauf des Nachmittags wurde der Pfad immer schwieriger. Er verengte sich so stark, dass der Felssaum, auf dem sie bisher gegangen waren, völlig verschwand. Luc war gezwungen, nach
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