Die zehnte Kammer
und verkündete theatralisch: »Nun, die Inschrift auf dem Deckblatt bedeutet: ›Ich, Barthomieu, Mönch in der Abtei Ruac, bin zweihundertundzwanzig Jahre alt, und dies ist meine Geschichte.‹«
Luc runzelte erstaunt die Stirn. »Weiter …«
»Und die ersten Zeilen auf der ersten Seite lauten: ›Zur bleibenden Erinnerung an den Heiligen Bernhard von Clairvaux, den edelsten Menschen, den ich jemals die Ehre hatte zu kennen.‹«
Luc ließ seine Fingerkuppen über den Heiligenschein der Figur auf dem Buchdeckel gleiten.
»Ist er das?«
»Vermutlich.«
»Der mit den Bernhardinern?«
»Nein, die sind nach dem heiligen Bernhard von Menthon benannt.«
»Auch gut. Aber jetzt erzähl mir doch bitte, was sonst noch in dem Buch steht.«
»Das kann ich nicht.«
Luc verlor langsam die Geduld. »Warum nicht?«
Hugo lachte amüsiert. »Weil ich es nicht lesen kann.«
Nun hatte Luc endgültig von dem Katz-und-Maus-Spiel die Nase voll.
»Jetzt hör auf mit den Faxen und sag mir einfach, warum du es nicht lesen kannst.«
»Weil der Rest des Buchs verschlüsselt ist!«
FÜNF
Jedes Mal, wenn Luc ins Périgord reiste, schien es ihm, als käme er nach Hause. Das grüne, fruchtbare Land empfing ihn mit ausgebreiteten Armen wie eine Mutter. Schon als kleiner Junge hatte er hier mit seinen Eltern die Sommerferien in einem kleinen Häuschen in Saint-Aulaye verbracht. Wann immer er seitdem als Erwachsener in diese ländliche Gegend zurückkehrte, war er einfach nur glücklich. Er erinnerte sich jedes Mal sofort daran, wie er vor vielen Jahren am Dorfstrand in der Dronne geplantscht hatte.
Die großen Hügel mit ihren Schluchten und Felswänden aus Kalkstein, die sonnenüberfluteten Terrassen der Weinberge, die dichten Wälder, wo auf sandigem Boden Pflaumenbäume und Steineichen wuchsen, die alten Dörfer und Städte mit ihren Häusern aus Sandstein – all diese Dinge rührten an sein Herz und zogen ihn immer wieder hierher zurück.
Aber nichts war ihm so wichtig wie die uralten Seelen des Périgord, die schattenhaften Geister der Vergangenheit, die noch immer durch die Wälder zu huschen schienen, wenn die Augen sie auch nicht sehen konnten.
Schon als Kind hatte er sich bei Ausflügen in die dunklen Höhlen dieser Landschaft vorgestellt, wie die Urzeitmenschen hier gelebt hatten, und seit er mit elf Jahren den Roman Ayla und der Clan des Bären von Jean Auel gelesen hatte, war sein akademischer Weg zu den Universitäten von Paris, Harvard und schließlich Bordeaux bereits vorgezeichnet gewesen.
Luc hatte Hugo mit seinem verbeulten Landrover am Gare Saint-Jean, dem Hauptbahnhof von Bordeaux, abgeholt und war mit ihm nach Westen gefahren. Der alte Geländewagen mit seinen kaputten Stoßdämpfern hatte schon ein paar hunderttausend Kilometer auf dem Buckel und diente normalerweise dazu, Personal und Ausrüstung zu den Ausgrabungsstätten zu transportieren.
Noch vor dem Mittagessen erreichten Luc und Hugo die Abtei und wurden von Dom Menaud in dessen Arbeitszimmer empfangen, einem staubigen Raum voller Bücher, der eher zu einem Universitätsdozenten als zu einem Mann der Kirche gepasst hätte. Hugo machte Luc und den Abt miteinander bekannt und entschuldigte sich dafür, dass sie in ihrer Outdoor-Kleidung für den Besuch nicht richtig angezogen seien.
Hugo hatte in den vergangenen Wochen wegen der zu restaurierenden Bücher ständig mit Dom Menaud in Verbindung gestanden und einen genauen Zeitplan für die Rückgabe der wiederhergestellten Bände vereinbart. Dass Monsieur Pineau ihm nun das Buch von Frater Barthomieu persönlich überbrachte, freute den Abt sehr. Als Hugo es aus seiner Aktentasche nahm, streckte er die Hände danach aus wie ein Kind, dem man eine Tafel Schokolade schenkt.
Fünf volle Minuten war der Abt damit beschäftigt, sich das Buch sorgfältig anzusehen. Seite für Seite blätterte er es durch und betrachtete alles durch seine Brille, wobei er immer wieder staunend den Kopf schüttelte. »Wirklich ein ungewöhnliches Buch«, sagte er, als er damit fertig war. »Der heilige Bernhard, wie interessant! Und wieso hat dieser Barthomieu es für nötig erachtet, sein Buch zu verschlüsseln? Die Bilder sind phantastisch, obwohl ich sagen muss, dass sie mir bei aller Schönheit doch ein wenig seltsam vorkommen. Ich wüsste nur zu gern, was das alles zu bedeuten hat.«
»Wir auch, Dom Menaud«, sagte Hugo. »Deshalb sind wir heute hier. Professor Simard hat mir freundlicherweise seine Hilfe
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