Die zehnte Kammer
angeboten.«
Der Abt wandte sich an Luc, wobei er seine Hände schützend über das Buch legte. »Das weiß ich sehr zu schätzen, Herr Professor. Einer meiner Padres hat für mich im Internet recherchiert und berichtet, dass Sie für Ihr Alter schon eine glänzende akademische Karriere hinter sich haben. Ein Bakkalaureat von meiner Alma Mater in Paris, ein Doktortitel aus Harvard, wo Sie auch eine Dozentenstelle hatten, und jetzt eine renommierte Professur in Bordeaux. Da kann man nur gratulieren.«
Luc verbeugte sich.
»Warum ausgerechnet Harvard, wenn Sie mir die Frage gestatten?«
»Meine Mutter war Amerikanerin, mein Vater Franzose. Als Junge war ich auf einem Internat, weil meine Eltern im Nahen Osten lebten, aber die Sommerferien haben wir immer gemeinsam in Frankreich verbracht. Als meine Eltern sich trennten, haben sie alles untereinander aufgeteilt, auch ihr Kind. Zuerst war ich in Amerika bei meiner Mutter, wo ich die Highschool besuchte, dann kam ich zu meinem Vater und studierte in Paris, nur, um später wieder zu meiner Mutter zurückzukehren und mein Studium in Harvard zu beenden. Das war zwar alles ein wenig umständlich, aber unter dem Strich hat es mir gutgetan.«
»Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie fast alle Ihre Forschungsprojekte hier in unserer Gegend durchgeführt.«
»Zu neunzig Prozent, würde ich sagen. Ich war bei der Erforschung fast aller wichtigen paläolithischen Stätten mit dabei, einschließlich der Chauvet-Höhle unten an der Ardèche. Seit ein paar Jahren führe ich bei Les Eyzies erneute Untersuchungen an ein paar alten Grabungsstätten von Professor Movius aus Harvard durch. Damit bin ich noch immer beschäftigt.«
»Aber nicht zu beschäftigt hierfür?«, fragte der Abt und zeigte auf das Buch.
»Sie sagen es! So ein Rätsel kann man nicht auf sich beruhen lassen.«
Dom Menaud nickte und blickte wieder auf das Buch.
»Der heilige Bernhard von Clairvaux war ein sehr wichtiger Mann für unseren Orden, ist Ihnen das bewusst?«
Hugo bestätigte, dass ihm das bekannt war.
Der Abt, der nur seine einfache Mönchskutte trug, schürzte besorgt die Lippen. »So faszinierend ich es auch finde, ein Dokument zu besitzen, das auf irgendeine Weise mit ihm in Verbindung steht, dürfen wir nicht vergessen, dieses Manuskript mit einem gewissen Feingefühl zu behandeln. Wir wissen schließlich nicht, was dieser Barthomieu darin geschrieben hat. Der heilige Bernhard ist für uns in vielerlei Hinsicht interessant.«
Er fuhr fort, indem er die einzelnen Punkte an den Fingern abzählte: »Bernhard war der Begründer des Zisterzienserordens. Bernhard nahm am Konzil von Troyes teil, das den Templerorden bestätigte. Bernhard rief zum zweiten Kreuzzug auf. Und Bernhard gründete fast zweihundert Klöster in ganz Europa. Sein theologischer Einfluss war enorm. Die Päpste hatten immer ein offenes Ohr für ihn, und bekanntlich war er derjenige, der Pierre Abélard an Papst Innozenz II. verraten hat.« Weil Luc keine sichtbare Reaktion zeigte, fügte der Abt erklärend hinzu: »Sie wissen doch, die berühmte Romanze zwischen Abélard und Héloïse, die tragischste Liebesgeschichte des Mittelalters?«
»Natürlich!«, sagte Luc. »Hier in Frankreich muss jedes Schulkind ihre Liebesbriefe lesen.«
»Ich spreche aber von einer späteren Zeit in Abélards Leben, lange nach seinem körperlichen Missgeschick, wenn ich das mal so nennen darf. Bernhard hat ihm damals das Leben noch einmal ziemlich schwergemacht, und zwar wegen eines theologischen Disputs, nicht wegen einer Liebesaffäre. Aber das ist nur eine Fußnote der Geschichte. Was zählt, sind Bernhards große Werke, für die er 1174, schon zwanzig Jahre nach seinem Tod, heiliggesprochen wurde. Im Jahr 1830 hat ihn Papst Pius VIII. dann offiziell zum Doctor ecclesiae gemacht. Damit will ich Folgendes sagen, meine Herren: Was immer auch dieser Barthomieu zweihundert Jahre nach Bernhards Tod in seinem Traktat über ihn geschrieben haben mag, wir müssen dabei immer das Ansehen eines großen Heiligen im Auge behalten. Wenn ich Ihnen erlaube, dieser Angelegenheit nachzugehen, verlange ich nachdrücklich, dass Sie dabei die angemessene Diskretion wahren und mich über alles informieren, was Sie herausfinden, damit ich es meinen Vorgesetzten im Orden zur Prüfung vorlegen kann. Auch in dieser Sache bin ich nichts weiter als ein bescheidener Diener des Herrn.«
Nach genauem Studium der primitiven Karte im Buch hatte Luc beschlossen, die
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