Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die zehnte Kammer

Die zehnte Kammer

Titel: Die zehnte Kammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
Vom Netzwerk:
als deinen langweiligen Bruder.«
    Bernhard war gespannt auf Abélard. Aus Frühling wurde Sommer, und jedes Mal, wenn der wieder zu Kräften gekommene Bernhard einen Spaziergang auf dem Klostergelände unternahm, spähte er durch die Bogenfenster der Krankenstube in der Hoffnung, einen flüchtigen Blick auf den geheimnisvollen Mann zu erhaschen.
    Eines Morgens nach der Prim sagte ihm Barthomieu, dass Abélard um seinen Besuch gebeten habe. Zuvor allerdings solle Bernhard von Abélards Geschichte erfahren, damit keiner der beiden Männer in Verlegenheit geraten würde.
    In seiner Jugend hatte man Abélard nach Paris zum Studium in die Schule der Kathedrale von Notre-Dame geschickt, die damals dem gleichen William von Champeaux unterstanden hatte, der nun Bernhards Ordensoberer war. Rasch war es dem jungen Abélard gelungen, seinen Magister im Fach Rhetorik zu übertreffen, und im Alter von nur zweiundzwanzig Jahren hatte er seine eigene Schule außerhalb von Paris gegründet, die sich bei Studenten aus dem ganzen Land rasch großer Beliebtheit erfreute. Zehn Jahre später übertrug man ihm einen Lehrstuhl in Notre-Dame, und 1115 wurde er dort Domherr. An diesem Punkt unterbrach Bernhard seinen Bruder und sagte, dass er natürlich von diesem hochintelligenten Scholar gehört und sich immer gewundert habe, was mit ihm geschehen sei.
    Nun, was Abélard widerfahren war, war die Begegnung mit einer Frau namens Héloïse, antwortete Bernhard.
    Als Abélard sie kennenlernte, war sie fünfzehn Jahre alt, zierlich und sehr gebildet. Sie lebte in Paris im Haus ihres reichen Onkels, des wohlhabenden Domherrn Fulbert. Abélard war so fasziniert von ihr, dass er bei ihrem Onkel eine Unterkunft bezog und dem begabten Mädchen Privatunterricht erteilte.
    Wer von den beiden letztendlich wen verführt hat, darüber stritt man noch lange, fest jedoch stand, dass sich zwischen ihnen eine leidenschaftliche Liebe entwickelte. Unglücklicherweise wurde Héloïse schwanger. Abélard schickte sie zu seinen Verwandten in die Bretagne, wo sie einen Jungen bekam, den sie Astrolabe nannte.
    Die beiden Liebenden ließen das Kind in der Obhut von Héloïses Schwester und kehrten nach Paris zurück. Abélard versuchte mit ihrem Onkel zu einer Übereinkunft zu gelangen. Er war bereit, Héloïse zu heiraten, wollte diese Eheschließung aber geheim halten, um seine Stellung in Notre-Dame nicht zu gefährden. Fulbert und Abélard gerieten darüber in heftigen Streit. Am Ende überzeugte Abélard Héloïse, als Nonne ins Kloster von Argenteuil einzutreten, wo sie als junges Mädchen zur Schule gegangen war.
    Gegen ihren Willen tat Héloïse, was er von ihr verlangte, obwohl sie keinerlei Berufung zum Klosterleben in sich fühlte. Aus Argenteuil schrieb sie Abélard dann zahlreiche Briefe. Immer wieder fragte sie ihn darin, warum sie sich in ein Schicksal fügen sollte, zu dem sie nicht geboren war – zumal dies auch die Trennung von ihm bedeutete.
    Das alles geschah im Jahr 1118, ein paar Monate bevor Bernhard nach Ruac kam. Héloïses Onkel war so wütend über Abélards schäbiges Verhalten seiner Nichte gegenüber, dass er die Angelegenheit nicht auf sich beruhen lassen konnte. Er schickte drei seiner Diener nachts zu Abélard, die ihn im Schlaf überfielen. Zwei der Männer drückten ihn auf sein Bett, während der dritte ihn mit einem Messer auf barbarische Weise entmannte. Danach warfen sie Abélards Hoden in eine Waschschüssel und ließen ihn vor Schmerzen wimmernd in seinem blutgetränkten Bett zurück.
    Abélard wünschte sich nur noch den Tod, doch er starb nicht. Er litt Höllenqualen und haderte mit seinem Schicksal. Hatte nicht Gott selbst die Eunuchen als unrein verdammt? Abélard hatte so viel Blut verloren, dass er immer schwächer wurde, und schließlich befiel ihn auch noch ein verzehrendes Fieber. Er wäre sicherlich zugrunde gegangen, hätte sich nicht William von Champeaux seiner erbarmt und ihn nach Ruac geschickt. Dort sollte Bruder Jean, der berühmte Infirmarius, ihn gesundpflegen. In der friedvollen, ländlichen Umgebung der Abtei von Ruac schritt Abélards Genesung dann tatsächlich langsam voran. Und am Ende ging es ihm auch gut genug für eine Begegnung mit dem anderen berühmten Kranken von Ruac, Bernhard von Clairvaux.
    Bernhard sollte sich noch lange an ihre erste Zusammenkunft erinnern. An jenem Sommermorgen hatte er vor der Krankenstation gewartet, bis in der Tür ein erschreckend dürrer Mann mit gebückten

Weitere Kostenlose Bücher