Die zehnte Kammer
Bernhard seinem Lieblingsbruder beim Abschied zugerufen. »Dir gehören nun aller Besitz und alle Ländereien unserer Familie.«
»Du wählst also den Himmel und lässt mir die Erde«, hatte Nivard unter Tränen geantwortet. »Das ist nicht gerecht!«
Die Worte hatten Bernhard tief bewegt und sollten ihn bis zur Wiedervereinigung mit Nivard quälen.
Im Jahr 1112, als Bernhard dort eintrat, war die Abtei von Cîteaux immer noch ein einfacher Holzbau, obwohl sie bereits vor fünfzehn Jahren errichtet worden war. Der Abt, ein unbeugsamer Engländer namens Stephan Harding, war überglücklich über diesen unerwarteten Zustrom von Novizen. Er hieß Bernhard und sein Gefolge mit offenen Armen willkommen. In der ersten, kalten Nacht im Laiendormitorium fand Bernhard, umgeben von seinen erschöpft schnarchenden Gefährten, vor lauter Glückseligkeit keinen Schlaf, und dieses Glücksgefühl verstärkte sich in den kommenden Tagen und Wochen voll harter Arbeit nur noch weiter. Später, als er der Abt eines eigenen Klosters war, sagte er jedem Novizen, der um Aufnahme in den Orden bat: »Wenn du in diesem Kloster zu leben wünschst, dann musst du deinen Körper zurücklassen, nur dein Geist darf hier Eintritt finden.« Bernhards Fähigkeiten waren so außergewöhnlich und seine Arbeit von solch unermüdlichem Fleiß, dass Stephan sich nach zwei Jahren entschied, Bernhard eine Tochterabtei des Klosters gründen zu lassen. Zusammen mit seinen Brüdern André und Gérard und zwölf weiteren Mönchen schickte er ihn fort in die Diözese von Langres in der Champagne.
Auf einer Lichtung im Wald bauten sie sich eine einfache Behausung und führten dort ein Leben, das selbst nach ihren Maßstäben äußerst hart war. Das Land war wenig fruchtbar, weshalb sie ihr Brot nur aus grober Gerste backen konnten, und im ersten Jahr mussten sie sich sogar von Wildkräutern und gekochten Birkenblättern ernähren. Doch sie gaben nicht auf und errichteten schließlich ein Kloster, das sie Clairvaux nannten.
Bernhards Charisma sorgte für einen unablässigen Zustrom von Novizen nach Clairvaux, und als er dann erkrankte, lebten dort bereits über einhundert Mönche. In seiner kleinen Zelle vermisste Bernhard die Gemeinschaft mit den anderen Mönchen im langen, offenen Dormitorium, aber wegen seines schlimmen, nun schon mehrere Monate andauernden Hustens hätten die anderen keinen Schlaf gefunden.
Gérard war unter Bernhards sechs Brüdern stets der stärkste gewesen. Bis auf eine Verwundung an der Hüfte, die er sich im Krieg zugezogen hatte, war er in seinem ganzen Leben keinen einzigen Tag lang krank gewesen. Er kümmerte sich um seinen schwachen Bruder und flößte ihm Suppen und Kräutertee ein, während Bernhard auf seinem Lager daniederlag. Weil er viel zu schwach war, um die Mönche im Gebet zu leiten, übertrug Bernhard die Leitung der Abtei seinem Prior, bestand aber darauf, dass man ihn zu jedem Stundengebet und jeder Messe in die Kirche trug.
Eines Tages unternahm Gérard eine Reise zu William von Champeaux, dem Bischof von Châlons-en-Champagne, und unterrichtete ihn über den Gesundheitszustand seines Bruders. William schätzte Bernhard sehr und erkannte in ihm einen zukünftigen Kirchenführer. Als er nun von Bernhards Krankheit erfuhr, erwirkte er beim Zisterzienserorden die Erlaubnis, Bernhard für ein Jahr zu sich nehmen zu dürfen. Als er sie erhielt, entband er den jungen Abt sofort von all seinen Pflichten und befreite ihn von den strengen Regeln seines Ordens, bis er wieder vollkommen genesen war. Bernhard wurde in einem Pferdewagen Richtung Süden gebracht, in ein wärmeres Klima und in ein reicheres Kloster, in dem das Leben nicht so beschwerlich war. Es war das Kloster, in das Bernhard vor Jahren seinen mittleren Bruder Barthomieu entsandt hatte, die Abtei von Ruac.
Ruac war eine benediktinische Gemeinschaft, die sich nur langsam von den von Bernhard angeprangerten Exzessen befreite. Daher kam sie als Sitz für einen Zisterzienserorden nicht in Frage. Obwohl man keine neuen Novizinnen mehr annahm, brachte es der gutmütige Abt nicht übers Herz, die alten Nonnen aus dem Kloster zu werfen. Er hatte weder den Weinkeller noch die Brauerei abgeschafft und auch die vollen Speisekammern und Getreidespeicher nicht geleert. Die eifrigen Mönche um Barthomieu, die Bernhard nach Ruac geschickt hatte, um das zisterziensische Credo zu verbreiten, hatten im Lauf der Jahre gelernt, das angenehmere Leben in Ruac zu schätzen. Und so
Weitere Kostenlose Bücher