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Die zehnte Kammer

Die zehnte Kammer

Titel: Die zehnte Kammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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Frankreich, 1118
    An diesem kristallklaren Wintermorgen war es in den großen Wäldern rings um die Abtei still und friedlich. Auch die Felder davor lagen ruhig da, und am weiten Horizont bewegte sich nichts.
    In dem kalten Raum befand sich nichts außer einem Strohsack, einem Nachttopf und einer Schüssel mit Wasser, auf dem sich eine dünne Eisschicht gebildet hatte. Der junge Abt hatte seine raue Wolldecke zurückgeschlagen, weil ihm trotz der Kälte furchtbar heiß war. Seine Haut war nass von Schweiß. Der trockene Husten, der ihn die ganze Nacht über wach gehalten hatte, war jetzt abgeklungen. Dafür quälten ihn nun pochende Kopfschmerzen. Er atmete langsam durch die Nase ein, um keinen erneuten Hustenanfall zu provozieren.
    Als Bernhard noch ein kleiner Junge aus reichem Haus gewesen war, hatte sich immer, wenn er krank war, eine Tante oder Cousine um ihn gekümmert. Jetzt aber, nachdem er alle Frauen aus dem Konvent verbannt hatte, war er auf die viel weniger einfühlsame Pflege von Männern angewiesen.
    In seinen Fieberphantasien sehnte er sich nach seiner geliebten Mutter, die schon so lange tot war und die ihn als Kind an seinem Krankenlager mit einem Lied, etwas heißer Milch mit Honig oder nur durch ihre bloße Anwesenheit gesundgepflegt hatte. Was war sie doch für eine wunderschöne Frau gewesen!
    Jetzt, da Bernhard achtundzwanzig Jahre alt und Abt des Klosters von Clairvaux war, gab es für ihn keine Mutter und keine liebevolle Hand mehr, die seine Schmerzen linderte. Er musste seine Krankheit stoisch ertragen und auf die Barmherzigkeit Christi hoffen, auf dass er ihn bald von seinem Leiden erlöste.
    Würde seine Mutter noch leben, dann wäre sie jetzt sicherlich stolz darauf, wie sich ihre ehrgeizigen Pläne entwickelt hatten. Schon bei der Geburt hatte sie jedes ihrer Kinder – sechs Söhne und eine Tochter – Gott geweiht und ihnen eine streng christliche Erziehung angedeihen lassen.
    Als Bernhard schließlich die Früchte dieser Erziehung ernten konnte, war seine Mutter schon tot. Für seine Lehrmeister war er immer ein Junge mit besonderen Talenten gewesen, der zusätzlich zu seiner edlen Herkunft über angeborene Intelligenz und ein ruhiges Gemüt verfügte. Auch wenn Bernhard kurzzeitig mit den weltlichen Verführungen der Literatur und Dichtung liebäugelte, hatte nie ernsthaft in Zweifel gestanden, dass er sein Leben vollständig in den Dienst des Herrn stellen würde.
    Wäre er den Weg des geringsten Widerstands gegangen, dann wäre er in das nahe gelegene Benediktinerkloster von Fontaines eingetreten. Doch das hatte er vehement abgelehnt. Schon früh war er ein leidenschaftlicher Anhänger von kirchlichen Neuerern wie Robert von Molesme geworden, die beklagten, dass in den meisten Klöstern die strengen Regeln des heiligen Benedikt nicht mehr befolgt würden. Robert von Molesme gründete in Cîteaux ein neues Kloster, in dem der Zisterzienserorden seinen Ursprung hatte. Die Zisterzienser entsagten den Exzessen des Fleisches und des Geistes, von denen die Benediktiner verdorben waren, und verzichteten auf feine Leinenhemden, Lederstiefel, Pelze und Federbetten. Ihre Abteien und Klöster entbehrten jeglichen architektonischen Schmucks, und ihre Nahrung bestand aus trockenem Brot ohne Schmalz und Honig. Dafür erhoben sie aber auch keine Begräbnisgebühren, nahmen den Bauern nicht den Zehnten ab und errichteten ihre Klöster in entlegenen Gegenden abseits der Städte, wo sie auf jegliche weltliche Zerstreuung und die Gegenwart von Frauen verzichteten. Stattdessen verbrachten sie ihre Zeit mit Gebeten und Meditationen und harter, körperlicher Arbeit.
    Voller Sehnsucht nach diesem spartanischen Leben betete der junge Bernhard eines Tages in einer kleinen Kirche am Wegesrand und bat Gott um Rat und Führung. Als er sich erhob, wusste er auf einmal genau, was er zu tun hatte. Beseelt von der göttlichen Klarheit seines Entschlusses, überzeugte er seine Brüder Barthomieu und André sowie seinen Onkel Gaudry und einunddreißig weitere Edelmänner aus dem Burgund, mit ihm nach Cîteaux zu ziehen und in das dortige Kloster einzutreten. Fortan dienten sie nicht mehr dem König, sondern Gott, und tauschten das Leben als Adelige gegen das harte Mönchstum im Zisterzienserorden ein. Zwei weitere von Bernhards Brüdern, Gérard und Guy, die als Soldaten auf einem Feldzug waren, schlossen sich ihm später an, nur sein jüngster Bruder Nivard blieb zu Hause zurück.
    »Leb wohl, Nivard«, hatte

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