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Die zehnte Kammer

Die zehnte Kammer

Titel: Die zehnte Kammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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Schultern erschien. Er hatte eine hohe, von Sorgenfalten durchfurchte Stirn und ein scheues, fast knabenhaftes Lächeln. Sein Gang war langsam und schlurfend. Abélard tat Bernhard furchtbar leid. Trotz seiner eigenen Gebrechen fühlte sich Bernhard im Vergleich zu dieser armen Seele, als strotzte er vor Gesundheit.
    Abélard reichte ihm die Hand. »Abt Bernhard, ich wollte Euch schon so lange gern kennenlernen. Euch eilt ein großer Ruf voraus.«
    »Auch mich freut es, dass wir uns nun begegnen.«
    »Wir haben viel gemeinsam.«
    Bernhard zog eine Augenbraue hoch.
    »Wir beide lieben Gott«, fuhr Abélard fort, »und wir sind dank Schwester Clotildes grünen Suppen und Bruder Jeans braunen Tränken von schwerer Krankheit genesen. Kommt, lasst uns ein wenig spazieren gehen, nur bitte nicht zu schnell.«
    Von diesem Tag an waren die beiden Männer ständige Gefährten. Bernhard konnte sein Glück kaum fassen, in Abélard einen in Fragen der Theologie und Logik ebenbürtigen Gesprächspartner gefunden zu haben. Durch ihre Debatten und Diskurse war er nun in der Lage, seinen Geist ebenso zu ertüchtigen wie seinen Körper.
    Auf ihren Spaziergängen sprachen sie über Platon und Aristoteles, Realismus und Nominalismus, die Tugendhaftigkeit des Menschen. Sie stritten über konkrete und abstrakte Probleme und wurden einander so abwechselnd Lehrer und Schüler. Manchmal blickte Barthomieu in der Krankenstation von seiner täglichen Arbeit auf und deutete durch das offene Fenster auf die beiden, wie sie gestikulierend über die Wiese schritten. »Ist das nicht ein Segen, Bruder Jean? Unseren Patienten geht es besser.«
    Bernhard sprach leidenschaftlich von seinen zukünftigen Plänen, mit Feuereifer die zisterziensischen Prinzipien weiter zu verbreiten. Abélard hingegen weigerte sich, nach vorn zu schauen. Er verweilte gedanklich in der Gegenwart, als gäbe es für ihn weder Vergangenheit noch Zukunft. Bernhard machte ihm keine Vorhaltungen. Es schadete nur, eine gequälte Seele wie Abélard zu bedrängen.
     
    Im folgenden Jahr unternahmen sie eines Morgens einen langen Spaziergang. An einem ihrer Lieblingsplätze hoch über dem Fluss legten sie dabei eine Pause ein. Schweigend setzten sie sich auf zwei Felsblöcke und genossen die wunderschöne Aussicht. Die warmen Strahlen der Frühlingssonne hatten die ersten Blumen zum Blühen gebracht, und ein köstlicher Geruch lag in der Luft. Nach einer Weile hob Abélard den Kopf und sagte: »Du weißt über meine Vergangenheit Bescheid, nicht wahr, Bernhard?«
    »Ich habe davon gehört.«
    »Dann weißt du auch von Héloïse.«
    »Ja.«
    »Ich möchte, dass du sie kennenlernst, damit du mich besser verstehst.« Bernhard sah ihn fragend an. Daraufhin griff Abélard in seine Kutte und zog ein gefaltetes Pergament heraus. »Dies ist ein Brief von ihr. Du würdest mir eine große Ehre erweisen, wenn du ihn lesen und mir mitteilen würdest, was du darüber denkst. Héloïse hätte bestimmt nichts dagegen.«
    Bernhard las den Brief und konnte kaum glauben, dass seine Verfasserin erst achtzehn Jahre alt sein sollte. Obwohl es sich um einen Liebesbrief handelte, war er nicht banal und gewöhnlich, sondern wunderbar gescheit und rein. Bernhard konnte nicht anders, die Poesie dieser Worte und die Leidenschaft, die aus ihnen sprach, berührten ihn zutiefst. Schon nach ein paar Zeilen musste er sich eine Träne aus dem Auge zu wischen.
    »Wo bist du gerade?«, fragte Abélard.
    Bernhard las laut vor: »›Diese Klöster wurden nicht durch Spenden öffentlicher Wohltäter errichtet, noch wurden unsere Mauern vom Zins der Zöllner bezahlt, noch legte niederträchtige Erpressung den Grundstein dafür. Der Gott, dem wir dienen, findet hier nichts als redlich erwirtschafteten Wohlstand und die aufrichtigen Nonnen, die du hierhergeschickt hast. Was immer in diesem knospenden Weingarten wächst, verdanken wir allein dir. Es ist nun deine Aufgabe, ihn zu hegen und zu pflegen; dies sollte eines der vornehmsten Ziele deines Lebens sein. Unser heiliger Verzicht, unsere Gelübde und Lebensführung scheinen uns vor jeglicher Versuchung zu bewahren.‹«
    Abélard nickte traurig. »Bitte lies weiter.«
    Als Bernhard das Ende des Briefs erreicht hatte, faltete er ihn wieder zusammen und gab ihn Abélard zurück. »Eine bemerkenswerte Frau.«
    »Danke. Obwohl wir verheiratet sind, kann sie nie mehr meine Frau sein. Ich bin innerlich wie tot, alle Freude ist mir für immer genommen. Dennoch will ich den Rest

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