Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die zehnte Kammer

Die zehnte Kammer

Titel: Die zehnte Kammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
Vom Netzwerk:
hatte Ruac sie mehr verändert als sie am Ende Ruac.
    Bei seiner Ankunft war Bernhard zu krank und schwach, um die Verfehlungen in der Abtei vollends zu bemerken, geschweige denn, sie anzuprangern. Man gab ihm eine Klause an der Peripherie der Abtei mit einer Feuerstelle, einem weichen Bett, einem Lesetisch samt rosshaargepolstertem Stuhl und jeder Menge dicker Kerzen. Sein Bruder Barthomieu schürte das Feuer und wich wie ein eifersüchtiger Liebhaber nicht von Bernhards Seite, während eine ältere Nonne namens Clotilde ihm das Essen und Heiltränke brachte.
    Zuerst schien es, als ob Bernhard sterben würde. Er verlor immer wieder das Bewusstsein, erkannte häufig nicht einmal seinen Bruder und hielt die Nonne für seine Mutter.
    Erst am zwanzigsten Tag auf dem Krankenlager begann Bernhards Fieber so weit zu sinken, dass er sich seines Umfelds bewusst wurde.
    Er schaffte es, sich im Bett aufzurichten, und sah seinen Bruder an, der ihm die Decke zurechtzog. »Wer hat mich hierhergebracht?«, fragte er.
    »Gérard und einige andere Mönche von Clairvaux.«
    Bernhard rieb sich die Augen. »Lass dich anschauen, Barthomieu!«, sagte er. »Du siehst sehr gut aus.« Sein älterer Bruder war während seiner Zeit in Ruac dick geworden und hatte eine rosige Gesichtsfarbe bekommen, die an ein wohlgenährtes Ferkel erinnerte.
    »Oh, ich habe ein bisschen zugenommen«, sagte Barthomieu und klopfte mit der Hand auf seinen prallen, in einer Mönchskutte aus feinem Tuch steckenden Bauch.
    »Wie das?«
    »Der Abt hier ist nicht so streng wie du!«
    »Ja, man hat mir oft gesagt, ich sei zu streng.« Bernhard senkte den Blick. Barthomieu wusste nicht, ob er sich für die Entbehrungen schämte, die er seinen Mönchen abverlangt hatte, oder eher für die Verfehlungen seines Bruders.
    »Was führst du hier für ein Leben, Bruder?«, fragte Bernhard. »Dienst du damit dem Herrn?«
    »Ja, das tue ich, aber ich fürchte dennoch, dass unser Leben nicht deine Zustimmung finden wird. Mir gefällt es hier, Bernhard. Ich spüre, dass ich meinen Platz gefunden habe.«
    »Was tust du über das Gebet und die Meditation hinaus? Hast du eine Berufung?« Bernhard erinnerte sich, dass sein Bruder körperliche Arbeit im Freien stets gehasst hatte. In Ruac hatte Barthomieu erkannt, dass er besser zum Schreiben geeignet war, und sein Abt hatte ihn von der Feldarbeit befreit. Es gab ein kleines Skriptorium in Ruac, das Kopien der Benediktsregel produzierte und mit Gewinn verkaufte. Dort hatte man Barthomieu zu einem geübten Schreiber ausgebildet. Außerdem half er Bruder Jean, dem Infirmarius des Klosters, bei der Krankenpflege. Jeden Tag verbrachte Barthomieu eine Stunde bei den Kranken. Er sorgte dafür, dass sie es warm hatten, zündete ihnen die Kerzen für die Frühmesse an, wusch ihnen die Füße, reinigte die Schüsseln für den Aderlass und schüttelte die Flöhe aus den Betten.
    Barthomieu half seinem Bruder nun aus dem Bett. Bernhard war während seiner Krankheit bis aufs Skelett abgemagert. Barthomieu stützte ihn und hielt ihm den Nachttopf an. Dann bemerkte er wohlwollend, wie sehr sich die Farbe von Bernhards Urin verbessert hatte, und sagte schließlich: »Und jetzt gehen wir zusammen ein paar Schritte.«
    Im Lauf der folgenden Wochen war Bernhard dann langsam in der Lage, kleine Spaziergänge in der Frühlingsluft zu unternehmen. Bald begann er auch, die Messe zu besuchen. Etienne, der alte Abt, und sein Prior Louis hielten an den alten Benediktsregeln fest und fürchteten daher den berühmten jungen Mönch aus Clairvaux ein wenig. Sie wussten genau, dass sie mit dem Intellekt und der Überzeugungskraft dieses leidenschaftlichen Reformers mönchischen Lebens nicht mithalten konnten. Dennoch hofften sie, dass er sich als dankbarer Gast erweisen und ihnen weder ihren Weinkeller noch die Anwesenheit der alten Schwestern vorhalten würde.
     
    Als die beiden Brüder eines Tages über die Wiese vor Bernhards Krankenklause wanderten, sagte Barthomieu: »Weißt du, Bernhard, wir haben noch einen Mitbruder hier in Ruac, den man uns geschickt hat, damit er sich von einer fürchterlichen Wunde erholt. Von allen Menschen, die ich je getroffen habe, ist er der Einzige, der es an Gelehrsamkeit und in der Rhetorik mit dir aufnehmen kann. Wenn er wieder auf den Beinen ist, solltest du ihn kennenlernen. Sein Name ist Pierre Abélard, und obwohl du vieles in seiner Vergangenheit sicherlich missbilligen wirst, findest du ihn bestimmt sehr viel anregender

Weitere Kostenlose Bücher