Die zehnte Kammer
Tageslicht angewiesen, das nur wenige Fuß hineinreichte. Nachdem sie durch das niedrige Loch gekrochen waren, stellten sie fest, dass die Höhle hoch genug war, um in ihr zu stehen. Bernhard machte ein paar vorsichtige Schritte hinein, weil er im schwachen Lichtschein etwas entdeckt hatte. »Mein Gott, Abélard! Siehst du das auch? Da sind Malereien an den Wänden!«
Rennende Pferde. Wisente. Der Kopf eines riesigen schwarzen Stiers. Dahinter verschwanden die Umrisse der Tiere in der Dunkelheit.
»Hier muss ein Maler gewesen sein«, sagte Abélard.
»Ja, ein wahrer Meister!«, stimmte Bernhard zu. »Aber wer?«
»Glaubst du, dass diese Bilder alt sind?«, fragte Abélard.
»Kann sein, aber mit Bestimmtheit sagen kann ich es nicht.«
»Die Römer waren hier in Gallien.«
»Ja, aber diese Gemälde sehen nicht aus wie römische Mosaike«, sagte Bernhard und blickte durch den Höhleneingang hinaus ins Tal. »Wie alt diese Bilder auch immer sein mögen, sie sind von erhabener Schönheit. Wir müssen mit Fackeln hierher zurückkehren und schauen, ob es tiefer drinnen in der Höhle noch mehr dieser Bilder gibt.« Er legte Abélard die Hände auf die Schultern. »Und jetzt lass uns gehen, mein Freund, damit wir rechtzeitig zum Gottesdienst wieder in der Abtei sind. Was für ein wunderschöner Ausflug das doch war.«
Bernhard fragte Barthomieu, ob er mit ihm und Abélard zur Höhle gehen wollte. Barthomieu wiederum bat Bruder Jean mitzukommen, der sich sehr für Naturkunde begeisterte. Am nächsten Morgen brachen die vier Männer nach der Terz auf und hatten vor, zur mittäglichen Sext zurück zu sein. Falls sie das nicht schaffen sollten, würden sie dafür eben Buße tun – wegen eines versäumten Stundengebets ging die Welt nicht unter. Wäre Bernhard der Abt von Ruac gewesen, so hätte er ein solches Verhalten nicht auf die leichte Schulter genommen, aber im Augenblick fühlte er sich mehr als Entdecker denn als Mann der Kirche.
Am Eingang der Höhle angekommen, fühlten die Mönche sich wie kleine Jungs, die einen Streich ausheckten. Barthomieu war glücklich, dass Bernhard wieder so viel Freude am Leben zu haben schien. Bruder Jean, ein kugelrunder, gutmütiger Mann, war schon sehr gespannt auf das, was ihn in der Höhle erwartete. Bernhard und Abélard schließlich betrachteten den Ausflug als weitere Gelegenheit, ihre Freundschaft zu vertiefen.
Sie hatten Stäbe aus Lärchenholz dabei, die am Ende mit einem fettgetränkten Lappen umwickelt waren und ihnen als Fackeln dienen sollten. Auf dem Felsvorsprung unterhalb der Höhle ging Jean auf die Knie, aber nicht, um zu beten, sondern, um seinen Beutel zu öffnen. Darin befanden sich ein Feuerstein, ein kleiner Eisenstab und getrockneter Leinwandzunder.
Rasch hatte Jean Funken geschlagen, mit denen er den Zunder in Brand setzte. Damit entzündete er erst seine Fackel und dann die der anderen. Kurz darauf standen die vier Männer in der Höhle und betrachteten im flackernden Feuerschein die beeindruckendsten Kunstwerke, die sie je gesehen hatten.
Dabei verloren sie jedes Zeitgefühl. Sie merkten gar nicht, dass eine Rückkehr zur Sext völlig illusorisch war und sie es nur mit Glück bis zur Non schaffen würden. Im Licht der blakenden Fackeln bestaunten sie die Menagerie an den Wänden. Manche Tiere wie die Wisente und die Mammuts kamen ihnen wie phantastische Fabelwesen vor, während sie bei den Pferden und Bären die ungeheuer realistische Darstellung verblüffte. Der seltsame Vogelmann mit seinem erigierten Penis erschreckte sie hingegen etwas und entlockte ihnen peinlich berührtes Gelächter. Nachdem sie durch den schmalen Stollen in die letzte Kammer der Höhle gekrochen waren, staunten sie über die mit roter Farbe gemalten Schablonenhände an den Wänden der kleinen Kammer.
Seit sie die Höhle betreten hatten, fragten sie sich immer wieder, wer diese Bilder geschaffen haben könnte. Römer? Kelten? Fremde Barbaren? Und warum hatte jemand das alles hier gemalt? Wieso sollte jemand eine Felskammer mit unzähligen Händen übersäen? .
Jean wanderte weiter in die letzte Kammer der Höhle und rief: »Schaut, Brüder, hiervon verstehe ich mehr! Pflanzen!«
Als weithin geschätzter Infirmarius wusste der Bruder mehr über Heilkräuter als jeder andere im Périgord. Seine Wickel, Salben, Puder und Kräutertees genossen einen exzellenten Ruf, der sogar bis nach Paris reichte. Im Périgord gab es eine lange Tradition der Kräuterheilkunde, deren Wissen
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