Die Zeit: auf Gegenkurs
und flüsterte: »Jetzt kann uns niemand mehr helfen.«
»Vielleicht spielt es keine Rolle«, sagte Sebastian. Die Lebenden sterben, dachte er. Sie müssen es, einschließlich wir. Ich. Selbst der Killer, der auf dem Weg zu uns ist; irgendwann wird auch er sterben – langsam, über Jahre hinweg, oder von einem Moment zum anderen. Plötzlich.
Ein Klopfen an der Wohnungstür.
Mit dem Schürhaken in der Hand ging Sebastian zur Tür und öffnete sie.
Der in schwarze Seide gekleidete Mann mit den kalten Augen schleuderte etwas Kleines ins Wohnzimmer; Sebastian ließ den Schürhaken fallen, packte den Killer am Hals und zerrte ihn aus dem Flur ins Zimmer.
Das Zimmer explodierte.
Den Körper des Jüngers über sich, wurde Sebastian von der Druckwelle hochgehoben; er prallte gegen die gegenüberliegende Wand, während der Killer sich in seinen Armen aufbäumte. Rauch erfüllte das Zimmer. Er – und der Killer – lagen vor einer geborstenen Tür; lange Holzsplitter ragten aus dem Rücken des Killers. Der Killer war tot.
»Lotta«, sagte Sebastian und kroch unter dem schweren, leblosen Körper hervor; Flammen züngelten an den Wänden hoch, verzehrten die Vorhänge, die Möbel. Auch der Boden brannte. »Lotta«, sagte er und tastete nach ihr.
Er fand sie in der Küche. Ohne sie zu berühren, konnte er sehen, daß sie tot war. Bombensplitter waren ihr ins Gehirn und in den Körper gedrungen. Hatten sie mehr oder weniger auf der Stelle getötet.
Das Feuer knisterte; die rauchgeschwängerte Luft wurde unerträglich. Er hob seine Frau hoch, trug sie aus der Wohnung und hinaus in den Korridor. Die Nachbarn strömten bereits auf den Flur. Ihre Stimmen gellten durcheinander, und er spürte, wie ihre Hände nach ihm griffen – er stieß sie weg, ohne Lotta loszulassen. Blut rann über sein Gesicht. Wie Tränen. Er wischte es nicht fort; unbeirrt ging er weiter zum Aufzug. Irgend jemand hatte für ihn den Lift heraufgeholt; er fand sich in der Kabine wieder.
»Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen«, sagten Stimmen – fremde Stimmen – zu ihm, Stimmen, die zu den aufdringlichen Händen gehörten. »Und Sie sind auch verletzt; schauen Sie sich Ihre Schulter an.«
Mit der linken Hand – seine rechte schien gelähmt zu sein ~ tastete er nach der Knopfleiste des Aufzugs; er drückte den obersten Knopf.
Als nächstes nahm er wahr, daß er über das Dach des Gebäudes ging und nach seinem Wagen suchte. Als er ihn gefunden hatte, legte er Lotta auf den Rücksitz, schloß die Türen, stand eine Weile da, öffnete dann wieder eine Tür und setzte sich ans Steuer.
Dann stieg er hinauf in den Himmel; der Wagen flog durch die Abenddämmerung. Wohin? fragte er sich. Er wußte es nicht; er flog einfach weiter. Er flog weiter und weiter, während es Nacht wurde, er spürte, wie sich die Nacht über ihn und die gesamte Erde senkte. Eine Nacht, die ewig währen würde.
Mit der Taschenlampe in der Hand suchte er zwischen den Bäumen; er sah Grabsteine und verwelkte Blumen, und er wußte, daß er sich auf einem Friedhof befand – auf welchem, wußte er nicht. Auf einem alten, einem kleinen. Warum? fragte er sich. Um Lotta zu begraben? Er sah sich um, aber der Wagen und Lotta waren verschwunden; er hatte sich zu weit von ihnen entfernt. Es spielte keine Rolle. Er ging weiter. Der dünne, gelbe Lichtstrahl führte ihn schließlich zu einem
hohen Eisenzaun; er konnte nicht weiter. Also machte er kehrt und ging zurück, folgte weiter dem Lichtstrahl, als wäre er lebendig.
Ein offenes Grab. Er blieb stehen. Mrs. Tilly M. Benton, dachte er; hier hat sie einmal gelegen. Und nicht weit davon entfernt der prunkvolle Gedenkstein, unter dem einst der Anarch Peak geruht hatte. Das ist der Friedhof von Forest Knolls, erkannte er. Er fragte sich, warum er hierhergekommen war; er setzte sich ins feuchte Gras, spürte die Kälte der Nacht, spürte die eisige Kälte in seinem Innern, viel kälter als die Nacht. Kalt, dachte er, wie das Grab.
Er richtete den matten Lichtstrahl seiner Taschenlampe auf den Gedenkstein des Anarchen und las die Inschrift. Sic igitur magni quoque circum moenia mundi expugnata dabunt labem putresque ruinas, las er, ohne zu verstehen. Er fragte sich, was die Inschrift bedeutete. Er konnte sich nicht erinnern. Hatte sie irgendeine Bedeutung? Wahrscheinlich nicht. Er senkte die Taschenlampe, und der Gedenkstein versank in der Dunkelheit.
Eine Weile, eine lange Weile, saß er horchend da. Er dachte an nichts; es gab
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