Die Zeit: auf Gegenkurs
können.«
»Können wir hier oben miteinander reden?« fragte er.
»Warum hier oben?« Sie zog die Brauen zusammen. »Erkläre mir das bitte.«
»Der Anarch«, sagte er, »ist mir in einer Vision erschienen.«
»Oh, was für ein Essen! Verrate mir lieber, was die Jünger vorhaben; von mir aus auch hier. Aber rede schon!« Ihre Augen funkelten ungeduldig. »Irgend etwas ist mit dir los; ich weiß es. Ist er dir wirklich erschienen? Das ist Aberglauben; er ist in der Bibliothek und wird von einem halben Dutzend Löschungsräten bewacht. Die Uditen haben es dir eingeredet; sie glauben, daß sich der Anarch nach Belieben an jedem Ort manifestieren kann.«
»Laßt ihn frei«, sagte Sebastian.
Dieser Verrückte untergräbt das Fundament der Gesellschaft. Ein Affe, von den Toten zurückgekehrt, um die Heilige Schrift neu zu schreiben. Du hättest ihn erleben sollen; du
hättest hören sollen, was er sagt.«
»Was sagt er?«
»Ich bin nicht hergekommen, um darüber mit dir zu sprechen«, wehrte Ann Fisher ab. »Du sagtest, du wüßtest, was die Udi-Fanatiker vorhaben.«
Sebastian ließ sich neben ihr auf dem Beifahrersitz nieder. »Ich stelle den Anarchen auf eine Stufe mit Ghandi.«
Ann seufzte. »Okay. Er sagt, es gibt keinen Tod; er ist eine Illusion. Zeit ist eine Illusion. Jeder Augenblick, der entsteht, währt ewig. Allerdings – sagt er – entsteht er nicht wirklich; es hat ihn immer schon gegeben. Das Universum besteht aus konzentrischen Ringen der Realität ; je größer der Ring ist, desto mehr entspricht er der absoluten Realität. Aus diesen konzentrischen Ringen wird schließlich Gott. Er ist der Ursprung aller Dinge, und je näher sie ihm sind, desto realer sind sie. Ich glaube, das ist das Prinzip der Emanation. Das Böse ist lediglich eine geringere Wirklichkeit, ein Ring, der weiter von Ihm entfernt ist. Es ist ein Mangel an absoluter Realität und nicht die Gegenwart einer bösen Gottheit. Folglich gibt es keinen Dualismus, kein Böses, keinen Satan. Das Böse ist eine Illusion, wie der Verfall. Und ständig zitiert er Aussprüche dieser mittelalterlichen Philosophen wie Augustinus und Eriugena und Boethius und Thomas von Aquin – er behauptet, sie erst jetzt zu verstehen. Okay, genügt das?«
»Ich will alles hören, was du weißt.«
»Warum sollte ich seine Lehren verbreiten? Unsere Aufgabe ist es, sie zu löschen, nicht sie weiterzugeben.« Sie nahm einen Zigarettenstummel aus dem Aschenbecher des Wagens, zündete ihn an und blies rasch Rauch hinein. »Mal sehen.« Sie schloß die Augen. »Eidos ist Form. Wie in Platos Lehre – die absolute Realität. Sie existiert; Plato hatte recht. Eidos prägt die passive Materie; Materie ist nicht böse, sondern ungeformt, wie Lehm. Es gibt auch ein Anti-Eidos; einen formzerstörenden Faktor. Das ist es, was die Menschen als das Böse erleben, der Verfall der Form. Aber das Anti-Eidos ist ein Eidolon, eine Illusion; einmal geprägt, ist die Form ewig – sie unterliegt nur einer ständigen Evolution, so daß wir die Form nicht erkennen können. Ähnlich wie aus einem Kind ein Erwachsener wird, oder, wie es jetzt ist, aus einem Erwachsenen ein Kind. Der Erwachsene scheint verschwunden zu sein, aber in Wirklichkeit ist das Universelle, die Kategorie, die Form noch immer da. Es handelt sich um ein Problem der Wahrnehmung; unser Wahrnehmungsvermögen ist begrenzt, weil wir nur Teilansichten kennen. Wie Leibniz’ Monadologie. Verstehst du?«
»Ja«, nickte er.
»Nichts Neues«, sagte Ann. »Nur ein Aufguß aus Plotin, Plato, Kant, Leibniz und Spinoza.«
»Wir haben nicht unbedingt etwas Neues erwartet«, sagte Sebastian. »Wir wußten nicht, was wir erfahren würden.«
»Du bist gestorben; hast du all das nicht selbst erfahren?«
»Es ist wie im Leben. Jeder Mensch erfährt andere …«
»Ja, wie Leibniz’ Monaden.« Sie schob die fertig gerauchte Zigarette zu den anderen in die Packung. »Bist du endlich zufrieden?« Sie wartete ungeduldig, verkrampft.
»Und diese Lehre«, sagte er, »wollt ihr löschen.«
»Nun, falls die Lehre richtig ist«, erwiderte Ann, »können wir sie nicht auslöschen. Es gibt für dich also keinen Grund zur Aufregung.«
»Die Jünger der Macht wollen dich in eine Falle locken, sobald du dein Apartment betrittst«, sagte Sebastian.
Ihre Augen flackerten. »Wolltest du dich deshalb mit mir treffen?«
»Ja«, nickte er.
»Du hast deine Meinung geändert?«
Er nickte wieder.
Ann drückte sein Knie. »Ich danke dir
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