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Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition)

Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition)

Titel: Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Menez
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den süßlich, würzigen Geruch, den der Wind über die Baumkronen hinweg in ihre Nasen trug. Je weiter sie den Bergpfad hinaufgelangten, desto mehr Erinnerungen erwachten. Bilder aus Kindertagen flammten in ihren Gedanken auf. Es waren nicht die einprägsamen Einblicke in Täler oder Schluchten, die ihr bekannt vorkamen, sondern vielmehr waren es die kleinen, eher unscheinbaren Dinge, Steinformationen, felsige Hänge oder alte Bäume mit knorrigen Ästen, an denen sie vorbeikamen. Ein wirres Geflecht aus Gefühlen und manchmal starren Bildern streifte sie wie ein Windhauch, und ließ sie längst vergangene Freude, Traurigkeit und Ängste aufs Neue empfinden. Die Erinnerungen versetzten ihr schmerzhafte Hiebe. Manche blieben verschwommen; Momente von plötzlicher Klarheit gingen so schnell, wie sie gekommen waren. - Kar gab ihrer Tochter nun einen Namen: Rennjawe – Traumwind.
     
    Während der Abenddämmerung wurde es merklich kühler, die Luft war feucht und schwer. Sie saßen alle zusammen zwischen zwei Feuern, vor einem ausgehöhlten rötlichen Fels, der ihnen ein schützendes Dach bot. Ihr Lagerplatz lag oberhalb eines steilen Hanges und war nur von zwei schmalen seitlichen Pfaden zugänglich. Geröll bedeckte den Abhang. Kar und Maramir kannten diesen Platz, der ihrem Stamm bereits früher, wenn sie ins Land der Winterlager gezogen waren, und sie einen mühsamen tagelangen Marsch durch das unwegsame Gelände des Bergwaldes hinter sich gebracht hatten, für einige Tage Schutz geboten hatte.
    Sie schmatzten und schlürften laut. Das Sammeln von Insekten und pflanzlicher Kost hatte sich gelohnt. Mit einer schmackhaften Suppe füllten sie ihre Bäuche. Kar biß auf eine der wohlschmeckenden, reifen, kleinen Blüten, die den Boden einer Lichtung bedeckt hatten, auf die sie unterwegs gestoßen waren und sah, wie Maramir dem schlafenden Säugling im Tragesack auf Leinockas Bauch sanft die Wange streichelte. Der Wald, dessen war sich Kar sicher, würde ihnen genug zu essen geben, denn die Welt erwachte zu neuem Leben; die Zeit der Kälte war vorüber. Kar fühlte die Anwesenheit der Ahnen in jedem Baum, in jedem Stein. Die Ahnen hatten sie zurückgeführt und stets beschützt. - Zusammen, dachte sie, sind Wolf und Bär unbesiegbar. Der Bär war frei und hatte sich dazu entschieden, mit den Wölfen zu leben. Gemeinsam würden sie das Erbe der Ahnen weitertragen und hüten.
    Sie sah hinüber zu Bärenpranke. Argwöhnisch spähte er über seine Schultern. Sie glaubte zu ahnen, was in ihm vorging. Für ihn war es ein fremdes Land, mit fremdartigen Geräuschen und Gerüchen. Unweigerlich mußte ihm klar geworden sein, als sie die Ebene verlassen, die ersten Hügel überwunden hatten und tiefer ins Herz des Waldes vorgedrungen waren, daß an diesem Ort andere, fremde Mächte herrschen. Noch trauerten die Kinder des Mächtigen Bären, doch wenn erst einmal so viel Zeit vergangen war, daß die frischen Erinnerungen sich nur noch um die Gegebenheiten drehten, die sie im Bergwald durchlebten, würde die Wehmut vergehen. Deshalb hatte Kar es auch mit Freude gesehen, daß Werferin und Braunhaut den Tanz der Geschlechter miteinander tanzten. Zu vergessen fiel ihnen dadurch leichter.
    Kars Blick schwenkte zu Adlerkralle, deren Stirn, Augenlid und Wange eine dicke Narbe schmückte. Das hängende, steife Lid, das stets das halbe blinde Auge verdeckte, entstellte sie nicht; denn wer erst einmal die Geschichte dieser Verwundung kannte, empfand große Achtung vor ihr. Ein Adler, so stark, daß er ein vier Warmzeiten altes Kind packen und in die Luft heben konnte, riß ihr mit einer Kralle die Gesichtshaut auf. - Als kleines Mädchen flog sie in den Fängen des Adlers, bis er sie nach einer kurzen Strecke, knapp über dem Boden, wieder fallen ließ; wahrscheinlich, weil sie zu schwer wog und unentwegt gezappelt hatte. Dennoch umgab jene verheißungsvolle Begegnung mit dem mächtigsten Jäger der Lüfte, wie ein unsichtbarer Schatten Adlerkralle, was immer sie tat. Einige glaubten sogar, daß sie mit dem deformierten Auge Dinge sehen konnte, die ein anderes Auge nicht wahrnahm; Dinge, die keinen Namen trugen und deswegen nicht ausgesprochen werden konnten. Sie allein hatte durch den Adler erfahren, wie es war zu fliegen. - So hatten es sich die Spitzgesichter untereinander erzählt.
    Weder Adlerkralle noch Tanzt Viel würden es wagen, sich Kars Entscheidungen zu widersetzen. Sie schienen dazu bereit, sich zu fügen und würden sich auch

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