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Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition)

Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition)

Titel: Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Menez
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Während des Marsches war sie in die vereiste Schneedecke eingebrochen und in einen Spalt darunter getreten. Noch immer war ihr Knöchel geschwollen und schmerzte.
    Mit den Fingern fuhr Kar über den Stab, bis an eine Stelle, wo sich die Rinde vom Holz spaltete, steckte ihren Fingernagel dazwischen und zog ein Stück Rinde ab. Hervor trat das helle, glatte, unberührte Holz. Was ließ die Bäume dieser Welt wachsen? - Aus einer jungen Pflanze wurde ein gewaltiger Baum, der nichts außer den Zorn der Himmelswesen zu fürchten brauchte. Vielleicht, dachte sie, konnte man das Alter eines Baumes an den Blättern, Zweigen und Ästen zählen – ein Blatt für einen Tag, ein Zweig für einen Zeitraum von einem Voll erwachten Kleinen Himmelsfeuer bis zum nächsten, ein Ast für eine ganze Warmzeit. Die Großen Mächte mußten die Bäume lieben - ihre Seele war hell und glatt wie das Holz in ihren Händen. Ihre eigene Seele dagegen, dachte Kar, war voller Kerben und Schnitte, wie der Hakenstock der Fremden. Sie legte eine Hand auf ihren prallen, harten Bauch. Noch war die Seele ihres ungeborenen Kindes ebenso unbefleckt wie der Stock, den sie Stück für Stück entrindete. Jetzt bemerkte sie, daß auch Braunhaut und Werferin interessiert starrten. Sogar Adlerkralle, Braunhauts letzte lebende Frau, und ihre neun Warmzeiten alte Tochter Fiel ins Feuer schenkten ihr uneingeschränkte Aufmerksamkeit. In dem Moment kam die Erinnerung an den Schleichenden Tod: Viele waren gestorben, so wie Fürchtet die Raben, Adlerkralles jüngerer Sohn, Wasserauge, Braunhauts dritte Frau, oder Schneller Läufer ... Einige waren schwer krank gewesen und wieder genesen, so wie Tanzt viel, Adlerkralle, oder sie selbst ... Andere wurden nicht krank ... Aber es gab keinen, der den Schmerz eines großen Verlustes nicht erfahren hätte. - Die Erinnerung an ihre Mutter, an ihren Stamm, an ihren kleinen Sohn ... und an jenen Morgen, als die letzten Menschenkinder der Mutter Wölfin beinahe alle getötet worden waren, verdunkelte Kars Gedanken so sehr, daß ein schwarzer Schatten sich über ihre Seele zu legen schien, als Bilder und Gefühle wieder aufflammten. Kar nahm eine Klinge aus ihrem Gerätebeutel und ritzte damit ins Holz; sie verletzte es absichtlich. Mit dem bloßen Auge konnte sie die Verwundung, den Längsstrich auf ihrem Gehstock nicht erkennen, aber sie konnte ihn mit der Fingerspitze fühlen.
    „So fängt es an!“, dachte sie und ritzte noch einmal durch den Strich im Holz. Dann ein weiteres Mal und wieder – bis sie es schließlich sehen konnte: eine Kerbe im Holz, eine Kerbe in der Seele. - Ein verdächtiges Geräusch ließ Kar aufhorchen. Bärenpranke erhob sich und ergriff eine Lanze. Entlang der Höhlenwand schlich er zu dem mannshohen Wall aus Schnee, der sich am Eingang aufgetürmt hatte und das große Loch, das hereinführte versperrt hielt. Draußen, an der vereisten Schneeschicht, kratzte etwas ... Plötzlich tauchte die Silhouette und die leuchtenden Augen einer Hyäne auf, die über den Wall hineinzugelangen versuchte, abrutschte und wieder aus dem Blickfeld verschwand. So schnell Kar konnte, stand sie auf, um das Feuer mit ihrem Fell vor den hereinwehenden Böen zu schützen. Erneut versuchte die Hyäne über den Wall ins Innere der Höhle einzudringen ... Bärenpranke traf sie, mit der Lanze stochernd, am Kopf; ein grelles Aufjaulen übertönte das stete Heulen des Windes. Bis auf Kar, Maramir und Leinocka, die zurückblieben, um Fiel ins Feuer und die Flammen zu schützen, waren alle aufgesprungen und verteidigten mit vorgehaltenen Lanzen den Eingang. Draußen tobte brausend der Schneesturm. Die Hyänen waren hungrig. - In den letzten Tagen ihres Marsches hatten Kar und ihre Gefährten nichts als eine einsame, verlassene, in weiß gekleidete Landschaft gesehen, ohne Vögel am Himmel und Tiere am Boden. Vögel und Tiere schienen diese Welt verlassen zu haben, und vor der großen Kälte und den Stürmen ins Reich der Unterwelt geflohen zu sein. Kars Bauch war prall und rund, und auch der von Leinocka war mittlerweile um das Doppelte gewachsen. - Den Ahnen sei Dank, daß sie sich noch gut an diesen Ort tief im Hügelland erinnert hatte ... Als sie die Höhle endlich gefunden hatten, kam es zu der ersten Begegnung mit den Mähnenwölfen. Die ersten zeigten sich bereits, als sie sich der Höhle näherten, postierten sich vor dem Eingang und musterten die Gruppe Menschen, die da langsam aber stetig auf sie zukam ...
    Einen

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