Die Zeit der Hundert Königreiche - 4
die Stasis-Zelle befördern. Oder vielleicht war es einfacher, ihm in einer dunklen Nacht ein Messer in die Rippen zu stoßen und seinen Leichnam den um die Klippen schleichenden Kyorebni zu überlassen. Paul behielt eine gleichmütige Miene bei und stimmte mit den anderen in die Hochrufe auf Bard ein. Es würde nicht leicht sein. Im Augenblick hatte Bard an anderes zu denken als an die Ausbildung seines Duplikats zu seinem Stellvertreter und seiner Marionette. Aber zu anderen Zeiten konnte einer des anderen Gedanken lesen, und Paul hatte nicht gelernt, seinen Geist abzuschirmen. Vielleicht konnte Melisandra ihm helfen, wenn sie tatsächlich eine Zauberin war. Aber andererseits würde Melisandra kein Interesse daran haben, den Vater ihres Sohnes umzubringen. Sie mochte sagen, sie hasse Bard, aber Paul war sich der Stärke dieses Hasses nicht völlig sicher. Wenn er sie allerdings vor vollendete Tatsachen stellte, konnte er ihr wahrscheinlich vertrauen, daß sie über den Personenaustausch schwieg.
Vorläufig konnte er nur eins tun, und das war genau das, was Bard von ihm verlangte. Er mußte sich darauf vorbereiten, Bard di Astunen nicht nur darzustellen, sondern Bard di Asturien, der Kilghard-Wolf, General der Armee von Asturias, zu werden. Und vielleicht eines Tages mehr.
Zu seiner eigenen Überraschung - denn er wußte nichts über die Kampfmethoden auf Darkover und hatte noch nie ein Schwert in der Hand gehabt - lernte er das Fechten, als sei es ihm angeboren. Nach kurzer Überlegung kam er auch darauf, warum. Er war mit den gleichen Reflexen und der überragenden körperlichen Organisation geboren, die Bard zu einem unvergleichlichen Schwertkämpfer machten, und während der Rebellion hatte er diesen physischen Mechanismus in kriegerischen Künsten und im unbewaffneten Krampf bis zum äußersten trainiert. Jetzt handelte es sich nur noch darum, Muskeln und Gehirn zusätzliche Kenntnisse zu vermitteln, wie ein geübter Tänzer eine neue Schrittvariation lernt.
Er stellte fest, daß er den Feldzug genoß. Es machte ihm Spaß, mit den Adjutanten auf Kundschaft zu reiten, abends das Lager aufzuschlagen und unter den vier Monden, die zunahmen und wieder abnahmen, zu schlafen. Oft dachte er, daß er glücklicher geworden wäre, hätte er dies Leben von Anfang an geführt. Hier wurde keine Konformität verlangt, und wenn, dann kam ihm das ganz natürlich vor, es gab viele Möglichkeiten, Aggressionen abzureagieren. Als er seine erste Schlacht hinter sich hatte, wußte er, daß er keine Angst hatte und, wenn er mußte, töten konnte, ohne den Feind zu fürchten oder zu hassen, und was noch wichtiger war, ohne daß ihm übel wurde. Eine von Speeren und Schwertern zerhackte Leiche war nicht mehr und nicht weniger tot als eine, die von Kugeln durchsiebt oder von Feuer verbrannt war.
Bard hielt ihn ständig in seiner Nähe und sprach viel mit ihm. Paul wußte, das geschah nicht aus Sympathie. Der Wolf mußte sich einfach überzeugen, ob Paul auch seine eigene Begabung für Strategie besaß. Anscheinend besaß er sie und das Talent, mit den Männern umzugehen, ein Gespür für den richtigen Einsatz in der Schlacht oder im Angriff. Das zeigte sich, während vor der Armee von Asturias Stadt auf Stadt fiel, die meisten, ohne sich zu verteidigen, und die Männer von Serrais bis an die äußersten Grenzen ihres Landes flohen oder fielen. In vierzig Tagen hatten sie zwanzig Städte erobert, und der Weg zu dem Stammland der Serrais-Leute lag offen vor ihnen. Paul entdeckte, daß er instinktiv wußte, welches die beste Maßnahme war, um eine Stadt zu erobern oder eine Schar von Kriegern, die sich ihnen entgegenstellte, zu besiegen.
»Mein Vater sagte einmal«, erzählte ihm Bard, »mit zweien von meinem Schlag könnten wir die Hundert Königreiche erobern. Und verdammt noch mal, er hatte recht! Ich weiß jetzt, daß die Ähnlichkeit nicht nur hauttief geht. Du und ich, wir sind derselbe Mann, und wenn wir gleichzeitig zwei Armeen anführen können, wird dies ganze Land vor uns liegen wie eine Hure auf der Stadtmauer! « Lachend schlug er Paul auf die Schulter. »Es wird uns gar nichts anderes übrigbleiben. Ein Königreich würde nicht Platz genug für uns beide bieten, aber hundert sollten für dich und für mich Raum genug haben! « Paul fragte sich, ob Bard ihn tatsächlich für so naiv hielt. Bestimmt würde Bard versuchen, ihn zu töten. Aber nicht bald, vielleicht auf Jahre hinaus nicht, weil er ihn brauchte, bis er sich alle
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