Die Zeit der hundert Königreiche
ziemlich zahm finden wirst. Ich habe sie nicht berührt, außer bei der Gelegenheit, als ich sie niederschlug, und selbst als sie mich kratzte, schnürte ich sie nur wie einen Sack Bohnen zusammen und warf sie in die Sänfte zurück. Es wurde nicht mehr Gewalt angewendet, als unbedingt notwendig war, darauf kannst du dich verlassen.«
»Oh, ich glaube dir«, sagte Bard. »Und wo ist sie nun?«
»In ihren eigenen Räumen, und ich nehme an, bis morgen früh kannst du ihr den Wunsch, wegzulaufen, ausreden, oder du gibst den Befehl, daß ein Wachposten vor ihre Tür gestellt wird, selbst«, antwortete Paul. Er überlegte, ob jetzt der richtige Augenblick sei, mit Bard über Melisandra zu sprechen, und kam zu dem Schluß, wahrscheinlich sei er es nicht.
Bard ging und rief seinen Leibdiener, ließ sich rasieren und ankleiden. Er wollte Carlina etwas Zeit lassen, sich von der langen, anstrengenden Reise auszuruhen und sich hübsch zu machen. Entgegen aller Hoffnung hoffte er, Carlina werde sich mit ihrer Heirat abgefunden haben und ihn willkommen heißen. Natürlich hatte sie sich gewehrt, als sie entführt wurde, doch als sie sich in ihrem eigenen Heim wiederfand, hatte sie bereitwillig ihr Ehrenwort gegeben. Sicher bedeutete das, sie hatte erkannt, daß sie nichts zu fürchten hatte. Carlina wußte doch ganz genau, daß er kein Haar auf ihrem Haupt krümmen würde. Schließlich war sie nach dem Gesetz der Götter und aller Hundert Königreiche seine Frau!
Ein Leibwächter vor ihrer Tür nahm Habachtstellung ein, als Bard sich näherte. Bard erwiderte den Gruß des Mannes und fragte sich, ob Paul Zweifel an Carlinas Ehrenwort gehabt habe. Aber warum? Wahrscheinlich hatte Carlina anfangs, als sie so plötzlich ohne ein Wort entführt wurde, gefürchtet, sie solle gegen Lösegeld festgehalten oder zu einer politischen Heirat mit irgendwem gezwungen werden. Jetzt war sie doch bestimmt froh, in Sicherheit und zu Hause zu sein?
Er fand Carlina in einem der inneren Räume. Sie lag schlafend auf einem Bett. Blaß sah sie aus, wie ein Schulmädchen in ihrem einfachen dunklen Gewand. Einen dicken, formlosen Mantel hatte sie wie eine Decke über sich gebreitet. Gegen die elfenbeinfarbene Blässe ihres Gesichts stachen die roten Augenlider ab. Er hatte es nie ertragen können, wenn Carlina weinte. Kurz darauf öffneten ihre Augen sich. Sie blickte zu ihm auf, und ihr Gesicht verzerrte sich vor Angst. Sie setzte sich bolzengerade auf und hielt den schwarzen Mantel um ihren Körper fest.
»Bard …« – sie blinzelte – »… ja, diesmal bist du es wirklich, nicht wahr? Wer war der andere Mann – einer von deiner Bastard-Verwandtschaft aus den Hellers? Du wirst mir nichts tun, nicht wahr, Bard? Schließlich sind wir zusammen Kinder gewesen, Spielgefährten.«
Er vernahm ihren langen Seufzer der Erleichterung. Sich an eine Nebensächlichkeit klammernd, fragte er: »Woher wußtest du es?«
»Oh, ihr seid euch wirklich sehr ähnlich, sogar in der Stimme. Erst hielt ich ihn auch für dich und kratzte ihm die Wange bis auf den Knochen auf. Wenn er nur dein willenloses Werkzeug war, sollte ich mich vielleicht bei ihm entschuldigen.«
Er kehrte zu dem zurück, was er vorher gesagt hatte. »Bestimmt würde ich dir nie weh tun, Carlina. Schließlich bist du meine Frau, und in diesem Augenblick wartet der König von Asturias darauf, uns di catenas zusammenzugeben. Wäre es dir heute abend recht, oder möchtest du lieber warten, bis wir einige deiner Verwandten zusammengerufen haben?«
»Weder heute abend noch zu irgendeiner anderen Zeit«, erklärte Carlina, und ihre Hände lagen weiß wie die eines Skeletts auf dem schwarzen Mantel. »Ich habe den Priesterinnen Avarras und der Mutter selbst einen Eid geschworen, daß ich mein Leben dem Gebet in Keuschheit widmen will. Ich gehöre Avarra, nicht dir.«
Bards Gesicht wurde hart. »Wer den ersten Eid bricht, wird auch den zweiten brechen. Bevor du Avarra einen Schwur leistetest, wurden du und ich vor allen Menschen verlobt.«
»Aber nicht verheiratet«, gab Carlina zurück, »und eine Verlobung kann gebrochen werden, wenn die Ehe nicht vollzogen wurde! Du hast nicht mehr Recht auf mich als … als … als der Wachposten draußen auf dem Flur!«
»Das ist Ansichtssache. Dein Vater gab dich mir …«
»Und nahm mich zurück, als du verbannt wurdest!«
»Ich spreche ihm das Recht ab, das zu tun.«
»Und ich sprach ihm zuvor das Recht ab, mich dir zu geben, ohne mich zu fragen,
Weitere Kostenlose Bücher