Die Zeit der hundert Königreiche
würde, wenn sie es wüßte. Und er mußte es ihr gestehen.
Aber welchen Schmerz mußte ihr seine Beichte bereiten! Er fragte sich, wie er Melora diese Last aufbürden, wie er es wagen könne, sein Herz zu erleichtern, indem er ihres mit Kummer beschwerte. Sollte er sich auf der Stelle töten, damit er nie wieder einem anderen Menschen weh tun konnte? Und dann erkannte er, daß auch diese Tat anderen Schmerz bereiten würde. Das Gefühl der Schuld konnte Carlina, die unter Scham und Demütigung schon fast zusammenbrach, ganz zerstören. Es würde Erlend weh tun, der ihn liebte und brauchte, und Alaric, in dessen schwachen Händen die Regierung des Königreichs lag, war ohne Bards starke Hilfe verloren. Und mehr als alle anderen würde Melora leiden. Deshalb durfte er es nicht tun. Er ritt in den Hof von Neskaya ein und fragte den verschlafenen Wachtposten, ob es sich ermöglichen lasse, daß er die Leronis Melora MacAran spreche.
Der Mann hob ein wenig die Augenbrauen. Aber offenbar war die Ankunft eines einzelnen nächtlichen Reiters im Turm von Neskaya kein so außergewöhnliches Ereignis. Er schickte jemanden, Melora auszurichten, sie werde gewünscht, und in der Zwischenzeit ließ er Bard, dessen Erschöpfung er bemerkte, ins Erdgeschoß eintreten und bot ihm ein paar Kekse und Wein an. Bard aß die Kekse gierig, doch den Wein rührte er nicht an. Er wußte, wenn er in seinem ausgehungerten und übermüdeten Zustand nur einen halben Becher zu sich nahm, wäre er sofort betrunken. So willkommen ihm das Vergessen im Rausch gewesen wäre, er durfte diesen einfachen Ausweg nicht wählen.
Er hörte Meloras Stimme, bevor er sie sah. »Aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, wer zu dieser gottverlassenen Stunde zu mir kommen könnte, Lorill.« Und dann stand Melora mit einer Lampe in der Hand unter der Tür. Auf den ersten Blick sah Bard, daß ihr Körper schwerer und ihr Gesicht runder denn je waren. Aber er sah auch das rote Haar durch den züchtigen Schleier schimmern, den sie umgeworfen hatte. Offensichtlich war sie gestört worden, als sie sich gerade zurückziehen wollte. Sie trug ein loses helles Hauskleid, unter dein sich die Umrisse ihres Körpers abzeichneten.
»Bard?« Fragend und erstaunt sah sie ihn an, und dann spürte er mit dieser neuen und schrecklichen Empfindsamkeit für die Gefühle anderer Menschen ihren Schock, als sie sein ausgehöhltes, erschöpftes Gesicht wahrnahm. »Bard, mein Lieber, was ist? Nein, Lorill, es ist alles in Ordnung. Ich nehme ihn mit in mein Wohnzimmer. Kannst du überhaupt gehen, Bard? Komm – komm herein, hinaus aus der Kälte!«
Er folgte ihr willenlos, unfähig, etwas anderes zu tun, als wie ein Kind zu gehorchen, und er dachte daran, daß auch Melisandra »mein Lieber« gesagt hatte, als sie sein Gesicht sah. Wie brachten sie es fertig? Melora öffnete die Tür eines Zimmers, in dem ein Feuer brannte, und die Wärme machte ihm bewußt, daß er halb erfroren war.
»Setz dich, Bard, hier ans Feuer. Lorill, leg bitte noch ein paar Scheite auf, und dann kannst du auf deinen Posten zurückkehren. Sei nicht albern, Mann, ich bin keine jungfräuliche Leronis , die beschützt und bewacht werden muß, und ich kenne Bard, seit er auf seinen ersten Feldzug ritt! Er wird mir nichts tun!«
Es gab also immer noch einen Menschen, der ihm vertraute. Das war nicht viel, aber es war ein Anfang, ein winziges Flämmchen, das die gefrorene Öde in ihm erhellte, wie das Feuer seinen ausgekühlten und erschöpften Körper wärmte. Lorill war gegangen. Melora hob ein zerbrechliches Tischchen hoch und stellte es zwischen sie.
»Ich wollte ein spätes Abendessen zu mir nehmen, bevor ich mit meiner Arbeit in den Relais begann. Willst du es mit mir teilen, Bard? Es ist immer mehr als genug für zwei da.«
Da waren ein Korb mit duftendem Nußbrot, zu leicht bröckelnden Scheiben aufgeschnitten, ein paar Rollen weicher aromatischer Kräuterkäse und ein irdener Topf mit warmer Suppe. Melora goß die Hälfte davon in einen Becher, den sie in seine Richtung schob, hob den Topf an die Lippen und trank ihren Teil daraus. Bard nahm einen Schluck von der warmen Suppe. Meloras ruhiges Vertrauen erfüllte ihn mit neuem Leben. Sie war mit ihrer Suppe fertig, setzte den Krug hin und strich Käse auf die Brotscheiben, die so bröckelig waren, daß sie sie mit den Fingern zusammenhalten mußte. Auch so fielen noch Krumen in ihren Schoß.
»Noch Suppe? Ich kann mir noch einen Topf bringen lassen, es ist
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