Die Zeit der hundert Königreiche
Und dann ließ er den Kopf sinken und erkannte mit einer neuen Art von Schmerz, daß es nicht wahr war. Wenn er wieder unwissend wurde, bestand die Gefahr, daß er wiederholte, was er getan hatte, daß er von neuem zu einem Mann wurde, der derlei Grausamkeiten begehen konnte, der gewissenlos einen Bruder verwunden, einen Pflegebruder fürs Leben lähmen, Frauen vergewaltigen und Menschen, die ihn gern hatten, quälen konnte … Er sagte, immer noch mit gesenktem Kopf: »Nein.« Denn selbst wenn er nichts über den Schmerz Carlinas wüßte, wäre Melisandras Leiden und die Schönheit ihres Verzeihens immer noch vorhanden, aber er würde nichts davon wahrnehmen. Er war jetzt nicht mehr fähig, sich vorzustellen, wie es war, nicht zu wissen. Er würde wie ein Blinder in einem Garten voller Blumen sein und Schönheit achtlos niedertrampeln.
»Ich möchte mein Wissen lieber behalten. Es tut weh, aber … oh, ich möchte es lieber behalten.«
»Gut«, flüsterte Melora. »Das ist der erste Schritt zu wissen und sich vor dem Wissen nicht zu verschließen.«
»Ich möchte … ich möchte irgendwie … versuchen, es wiedergutzumachen, soweit ich kann …«
Sie nickte. »Das wirst du. Du kannst gar nicht anders. Aber es gibt vieles, was du nicht wiedergutmachen kannst, und selbst wenn es dich foltert, mußt du lernen, irgendwie weiterzuleben und deine Last zu tragen, das Wissen, daß du nicht ungeschehen machen kannst, was du getan hast.« Sie sah ihn scharf an. »Zum Beispiel, hättest du Carlina damit allein lassen sollen?«
Er antwortete, immer noch nicht fähig, sie anzusehen: »Ich glaubte, ich sei der letzte Mensch, den sie zu sehen wünschte.«
»Sei dessen nicht allzu sicher. Schließlich habt ihr etwas miteinander geteilt, und eines Tages wirst du ihr wieder gegenübertreten müssen.«
»Ich … ich weiß. Aber danach … danach konnte ich nicht bei ihr bleiben … als ständige Erinnerung an das Geschehene … das konnte ich nicht ertragen. Ich habe Melisandra zu ihr geschickt. Sie ist … freundlich. Ich verstehe nicht, wie sie es fertigbringt, nach allem, was sie durchgemacht hat, was ich ihr angetan habe. Aber sie ist freundlich.«
Melora sagte: »Weil sie in die Menschen hineinsieht, auf die gleiche Art, wie du es jetzt tust. Sie weiß, was sie sind und was sie quält.«
»Du tust es auch«, meinte er nach einem Augenblick. »Was ist das? Ist es, daß man Laran hat?«
»Nicht nur. Aber es ist die erste Stufe in unserer Ausbildung. Carlina hat dir im Grunde Böses mit Gutem vergolten. Sie hat dir die Gabe des Laran geschenkt, die das erste Geschenk war, das sie selbst erhielt.«
»Ein schönes Geschenk!« erklärte Bard bitter.
»Es ist die Gabe, uns selbst zu erkennen. Das ist ein Geschenk, und mit der Zeit wirst du das einsehen. Bard, es ist spät, und ich muß an den Relais arbeiten – nein, in diesem Zustand allein lassen kann ich dich nicht. Erlaube mir, daß ich Varzil benachrichtigen lasse. Er ist unser Tenerézu , unser Bewahrer, und er kann jemand anders für mich einsetzen. Deine Not ist jetzt wichtiger.« Bard erinnerte sich, daß er Varzil von Neskaya gesehen hatte – war es bei Geremys Hochzeit gewesen? Es fiel ihm nicht mehr ein. Die Vergangenheit verwischte sich für ihn. Er wußte nicht mehr, wann oder wie oder warum er irgend etwas getan hatte. Er empfand nur noch ein unerträgliches Schuldgefühl und ein so großes Entsetzen vor sich selbst, daß er meinte, nie mehr den Kopf hoch tragen zu können. Alles, was er tat, alles rief endlose Katastrophen hervor. Wie konnte er so weiterleben? Aber auch sein Sterben rief eine Katastrophe hervor, so daß ihm diese Möglichkeit, nichts blieb …
Melora berührte seine Hand.
»Genug!« befahl sie scharf. »Jetzt beginnst du, dich dem Selbstmitleid hinzugeben, und das wird es nur noch schlimmer machen. Was du im Augenblick fühlst, sind nur die Folgen der Erschöpfung. Hör auf damit! Ich sage dir …« – und ihre Stimme wurde weicher »… wenn du ausgeruht und imstande bist, das, was dir geschehen ist, zu verarbeiten, wirst du weiterleben können. Du wirst nicht vergessen, aber du wirst es hinter dir lassen und fähig sein, mit dem zu leben, was du nicht wiedergutmachen kannst. Was du jetzt brauchst, sind Ruhe und Schlaf. Ich werde in deiner Nähe bleiben.« Sie erhob sich, nahm das Tischchen, stellte es an seinen alten Platz zurück und zog einen dick gepolsterten Schemel vor den Sessel.
»Ich hätte den Schemel für dich holen sollen
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