Die Zeit der hundert Königreiche
immer welche in der Küche über dem Feuer. Bestimmt nicht? Nimm das letzte Stück Brot, wenn du möchtest, ich bin vollgestopft, und du bist einen langen Weg in der Kälte geritten. Jetzt siehst du schon wieder ein bißchen weniger wie ein Banshee-Köder aus! Nun, Bard, was ist geschehen! Erzähle es mir.«
»Melora.« Er eilte zu ihr hinüber und fiel vor ihr auf die Knie. Seufzend blickte sie auf ihn hinab. Er wußte, sie wartete, und plötzlich entsetzte er sich vor der Ungeheuerlichkeit dessen, was er tat. Wie konnte er sich von seiner gewaltigen Last befreien, indem er sie Meloras Schultern aufbürdete? Er hörte seine eigene Stimme, brüchig und schwankend wie der neue Bariton eines Jungen im Stimmbruch. »Ich hätte nicht herkommen dürfen, Melora. Es tut mir leid. Ich … ich werde jetzt gehen. Ich kann es nicht …«
»Was kannst du nicht? Sei nicht albern, Bard.« Mit ihren fetten und doch seltsamerweise so anmutigen Händen umfaßte sie sein Gesicht und hob es empor. Und als er die Berührung an seinen Schläfen fühlte, erkannte er plötzlich, daß sie alles lesen konnte, daß sie blitzartig die ganze Masse an Informationen in sich aufnahm und wußte . Sein frischer Schmerz teilte sich ihr ohne Worte mit, und sie wußte, was er getan hatte, und wie er es jetzt selbst ansah, und was geschehen war.
»Gnädige Avarra!« flüsterte sie entsetzt. Dann sagte sie weich: »Nein – sie war dir nicht sonderlich gnädig, nicht wahr, du armer Kerl? Aber ihre Gnade hast du dir noch nicht verdient. Oh, Bard!« Und sie nahm ihn in die Arme und zog ihn an ihre Brust. Er kniete vor ihr, als sei sie in diesem einen Augenblick die Mutter, die er nie gekannt hatte, und er war kurz davor, in Tränen auszubrechen. Seit Beltrans Tod hatte er nicht mehr geweint, aber jetzt konnte es gleich wieder soweit sein. Deshalb mühte er sich auf die Füße und nahm sich mit aller Kraft zusammen.
»Oh, mein Lieber«, sagte Melora leise, »wie konnte es je dahin kommen? Ich mache mir Vorwürfe, Bard – ich hätte sehen müssen, wie sehr du Liebe und Ermutigung brauchtest, ich hätte einen Weg finden sollen, zu dir zu kommen. Aber ich war so stolz auf mich, daß ich mich an die Vorschriften hielt, als sei es nicht selbstverständlich, daß man sie menschlicher Not wegen beiseite schieben muß. Und mit meinem Stolz habe ich all das in Gang gebracht! Wir alle leben mit den Fehlern, die wir gemacht haben – das ist das Schreckliche daran. Wir blicken zurück und erkennen den Augenblick, von dem an alles schieflief, und ich glaube, mehr an Strafe brauchen wir nicht: Zu leben mit dem, was wir tun, und zu wissen, wie wir es taten. Ich hätte einen Weg finden sollen.«
In ihm stieg plötzlich die Erinnerung an Mirella auf, an jene Nacht im Lager, als Melora ihn weggeschickt und darauf hingewiesen hatte, was schickliches Benehmen war. Mirella hatte aus der Zeltöffnung geflüstert: »Sie hat sich in den Schlaf geweint …« Melora hatte ihn ebensosehr gewollt wie er sie. Wenn er wenigstens das gewußt hätte! Wenn er sich dessen sicher gewesen wäre, vielleicht wäre er dann sanfter mit Beltran umgegangen … Aber wie konnte Melora sich die Schuld an seinen Sünden und Fehlern geben? Sie tat es, und er konnte sie nicht mehr davon abbringen, und so hatte er ihr schrecklicherweise ebenfalls Unrecht zugefügt.
»Kann man es nicht wiedergutmachen? Kann man nicht etwas davon wiedergutmachen? Ich kann so nicht leben, mit dieser … dieser Bürde des Wissens, ich kann nicht …«
Sie berührte zart sein Gesicht und sagte mit unendlicher Sanftheit: »Aber du mußt, mein Lieber, wie ich es muß, wie Carlina es muß, wie wir alle es müssen. Der einzige Unterschied ist, daß einige von uns nie verstehen lernen, warum wir leiden. Sag mir, Bard, wäre es dir lieber, das alles wäre nicht geschehen? Wünschst du dir das wirklich?«
»Ob ich wünsche, ich hätte all diese Untaten nicht begangen? Bist du verrückt? Natürlich … das ist ja das Höllische daran, daß ich nichts davon ungeschehen machen kann …«
»Nein, Bard, ich meine, ob du wünschst, Carlina hätte dir dies nie gezeigt und du wärst immer noch der gleiche Mann, der du vor ein paar Tagen warst.«
Er wollte schon aufschreien: Ja, ja, ich kann dies Wissen nicht ertragen, ich möchte zurückkehren zu meiner Unwissenheit! Carlina hatte ihm diese Bürde durch Laran auferlegt; vielleicht war ein Weg zu finden, dies ungeheuerliche Wissen durch Laran wieder aus seinem Gehirn zu löschen.
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