Die Zeit der hundert Königreiche
Melisandra?«
Von irgendwoher nahm Bard die Kraft, sie anzusehen. Er konnte nicht hoffen, daß Mirella von seiner Verworfenheit nichts gehört hatte. Soviel er wußte, war jedermann in den Hundert Königreichen darüber informiert und bereit, auf den Namen Bard mac Fianna, genannt di Asturien, zu spucken. »Meister Gareth geht es sehr gut, doch natürlich wird er alt«, berichtete er ihr. »Er ist mit mir auf den Feldzug gegen die Ridenows geritten, bevor sie sich ergaben.« Er warf einen zögernden Blick auf Varzil. Vor noch nicht zehn Tagen hatte er Dom Eiric von Serrais, den Oberherrn dieses Mannes, nach der Schlacht als Eidbrecher hängen lassen. Aber obwohl Varzil traurig aussah, schien in ihm kein Haß gegen Bard oder dessen Armee zu sein.
»Und Melisandra?«
Melisandra ist die Schwester der Mutter dieses Mädchens. Was hat sie von mir gesagt? »Melisandra geht es gut.« Spontan setzte er hinzu: »Ich glaube, sie ist glücklich; ich – ich glaube, sie möchte einen meiner Friedensmänner heiraten, und wenn das ihr Wunsch ist, werde ich sie nicht daran hindern. Und König Alaric hat Erlend ein Legitimitätspatent versprochen, so daß Melisandra sich seiner Stellung wegen keine Sorgen zu machen braucht.«
Melora sagt, ich würde einen Weg zur Wiedergutmachung finden, soweit sie überhaupt möglich ist. Dies ist nur ein Anfang und so wenig, aber die richtige Gelegenheit. Paul ist beinahe so schlecht wie ich, und doch mag sie ihn aus irgendeinem Grund . Mirella schenkte ihm ein süßes Lächeln. »Ich danke Euch für Eure guten Nachrichten, vai dom . Und jetzt, Lord Varzil, stehe ich Euch zu Diensten.«
»Wir sind glücklich, dich bei uns zu haben, solange du dich von dem Geschehen in Hali erholst«, sagte Varzil. »Wie kam es, daß du nicht innerhalb des Turms warst?«
»Ich hatte Urlaub bekommen, um in die Berge zu reiten und mit zweien meiner Brediny zu jagen«, antwortete Mirella. »Und wir wollten uns gerade auf den Rückweg machen, als es zu regnen begann, und wir suchten Unterschlupf in der Hütte eines Hirten … und dann, o gnädige Göttin, fühlten wir … fühlten wir das Feuer … und die Schreie …« Ihr Gesicht wurde bleich, und Varzil streckte die Hand aus und faßte die der jungen Frau mit festem Griff.
»Du mußt versuchen zu vergessen, liebes Kind. Es wird immer in dir sein – ja, keiner von uns in allen Türmen wird jemals fähig sein zu vergessen«, sagte Varzil. »Meine jüngste Schwester Dyannis war Leronis in Hali, und ich spürte sie sterben …« Er verstummte, und einen Augenblick lang blickte er nach innen auf das Grauen. Dann nahm er sich zusammen und erklärte fest: »Wir müssen immer daran denken, Rella, daß ihr Heldentum einen weiteren Schritt auf den Tag zu ermöglicht hat, an dem das ganze Land dem Vertrag beigetreten ist. Denn du weißt, sie strahlten das Geschehen mit voller Absicht aus – während sie starben, hielten sie ihren Geist offen, damit wir alle sehen, hören und fühlen konnten, wie sie litten. Statt dessen hätten sie so leicht, so schnell vom Leben Abschied nehmen können.«
Mirella erschauerte. »Ich hätte es nicht tun können! Ich glaube, bei der ersten Berührung des Feuers hätte ich mein Herz angehalten und wäre einen gnädigen Tod gestorben …«
»Vielleicht«, meinte Varzil sanft. »Wir sind nicht alle gleichermaßen heldenhaft. Und doch hättest du, umgeben von den anderen, auch den Mut dazu finden können.«
Bard sah in Varzils Geist das Bild einer Frau, deren Körper wie eine Fackel loderte … Aber Varzil schloß es weg und sagte: »Du mußt jetzt einen anderen Turm wählen, Rella; möchtest du gern nach Arilinn oder nach Tramontana?«
»Tramontana ist ein gefahrvoller Posten«, erwiderte sie, »denn Aldaran ist dem Vertrag noch nicht beigetreten und könnte Tramontana angreifen. Ich schulde euch allen einen Tod. Deshalb will ich nach Tramontana gehen.«
»Das ist nicht notwendig«, redete Varzil ihr freundlich zu. »Für Leroni wird es eine Menge Arbeit hier geben, wo die Wunden der in Hali Verbrannten und Verletzten zu heilen sind, oder in den Venzabergen, wo Knochenwasserstaub versprüht wurde und Kinder im Sterben liegen.«
»Diese Aufgabe«, erklärte Mirella, »will ich den Heilerinnen und den Priesterinnen Avarras überlassen, wenn sie es über sich bringen, ihre isolierte Insel im See des Schweigens zu verlassen. Meine Aufgabe liegt in Tramontana; sie ist mir auferlegt, Varzil.«
Varzil neigte den Kopf. »Dann sei es so. Ich
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