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Die Zeit der Verachtung

Die Zeit der Verachtung

Titel: Die Zeit der Verachtung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Sapkowski
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Aussuchen von Kleidern. Doch als es Abend wurde, schlossen sich der Hexer und Yennefer dem bunten Zug an, der nach Aretusa unterwegs war – zu dem Palast, in dem das Bankett stattfinden sollte.
    Und jetzt in Aretusa wunderte sich Geralt und kämpfte mit der Überraschung, obwohl er sich vorgenommen hatte, sich über nichts zu wundern und sich von nichts überraschen zu lassen.
    Der riesige zentrale Saal des Palasts war in Form des Buchstaben T gebaut. Der längere Zweig hatte Fenster, die schmal und unwahrscheinlich hoch waren, bis fast unter die von Säulen getragene Decke reichten. Die Decke war ebenfalls hoch. So hoch, dass man nur schwer Einzelheiten der Fresken ausmachen konnte, mit denen sie geschmückt war, insbesondere das Geschlecht der Nackedeis, die das am häufigsten wiederkehrende Motiv der Malerei bildeten. In den Fenstern waren bleigefasste Buntglasbilder, die ein wahres Vermögen gekostet haben mussten, dennoch war in der Halle ein deutlicher Luftzug zu spüren. Geralt wunderte sich, dass die Kerzen nicht erloschen, doch bei genauerer Beobachtung erkannte er den Grund. Die Kandelaber waren magisch, vielleicht sogar illusorisch. Jedenfalls spendeten sie reichlich Licht, unvergleichlich mehr als Kerzen.
    Als sie eintraten, befand sich schon ein gutes Hundert Leute in dem Saal, der, wie Geralt schätzte, mindestens dreimal so viel hätte fassen können, selbst wenn in der Mitte, wie es der Brauch gebot, Tische in Form eines Hufeisens aufgestellt worden wären. Doch das traditionelle Hufeisen fehlte völlig. Es sah danach aus, als würde man im Stehen speisen müssen, dabei an den Wänden entlangwandern, die mit Gobelins, Girlanden und in der Zugluft wogenden Bannern geschmückt waren. Unter den Gobelins und Girlanden waren Reihen langer Tischchen aufgestellt. Und auf den Tischchen lagen raffinierte Speisen auf noch raffinierterem Geschirr inmitten raffinierter Blumenkompositionen und raffinierter Eisskulpturen. Geralt stellte fest, dass die Raffinesse die Menge der Speisen bei weitem überwog.
    »Es gibt keinen Tisch«, konstatierte er mürrisch, während er die kurze, schwarze, silbern abgesetzte und taillierte Jacke glattstrich, mit der ihn Yennefer ausstaffiert hatte. So eine Jacke, die der neueste Modeschrei war, wurde Doublett genannt. Der Hexer hatte keine Ahnung, woher diese Bezeichnung stammte. Und er wollte es auch nicht wissen.
    Yennefer reagierte nicht. Geralt hatte keine Reaktion erwartet, er wusste sehr wohl, dass die Zauberin auf derlei Feststellungen nicht zu reagieren pflegte. Doch er gab nicht auf. Er nörgelte weiter. Er hatte einfach Lust, ein bisschen zu nörgeln. »Es gibt keine Musik. Es zieht wie Hechtsuppe. Man kann sich nirgends setzen. Werden wir im Stehen essen und trinken?«
    Die Zauberin bedachte ihn mit einem schmachtenden veilchenblauen Blick. »Natürlich«, sagte sie unerwartet ruhig. »Wir werden im Stehen essen. Du solltest auch wissen, dass ein längerer Aufenthalt an den Tischen mit den Speisen als taktlos gilt.«
    »Ich werde mich bemühen, taktvoll zu sein«, murmelte er. »Zumal es nichts gibt, wo man sich besonders aufhalten könnte, wie ich sehe.«
    »Unmäßiges Trinken gilt als sehr taktlos«, setzte Yennefer die Belehrung fort, ohne sein Murren im mindesten zu beachten. »Einem Gespräch aus dem Wege zu gehen, gilt als unverzeihlich taktlos.«
    »Und dass dieser Hänfling«, unterbrach er sie, »in der idiotischen Hose mich gerade mit dem Finger seinen beiden Kumpels zeigt, gilt das als taktlos?«
    »Ja. Aber als Bagatelle.«
    »Was werden wir tun, Yen?«
    »Im Saal umhergehen, Leute begrüßen, Komplimente austeilen, Konversation machen  ... Hör auf, das Doublett zurechtzuziehen und die Haare zurückzustreichen.«
    »Du hast mir nicht erlaubt, das Stirnband anzulegen  ...«
    »Dein Stirnband ist anmaßend. Na, fass mich unter und lass uns gehen. Beim Eingang stehenzubleiben, gilt als taktlos.«
    Sie streiften durch den Saal, der sich allmählich mit Gästen füllte. Geralt war wahnsinnig hungrig, stellte aber rasch fest, dass Yennefer nicht gespaßt hatte. Es wurde offensichtlich, dass die unter den Zauberern verbindlichen Formen verlangten, dass man wenig aß und trank, und das scheinbar widerwillig. Zu allem Übel zog jeder Aufenthalt an einem Tisch mit Speisen gesellschaftliche Verpflichtungen nach sich. Jemand bemerkte die beiden, zeigte sich erfreut darüber, kam heran und begrüßte sie ebenso weitschweifig wie unaufrichtig. Auf das

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