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Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Titel: Die Zeit, die Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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ohne sich umzuziehen, direkt nach Arbeitsschluss zu ihm hinübergegangen. Knupp stand in seiner Arbeitskleidung in der Tür. Taler ging an ihm vorbei in Richtung Wohnzimmer. »Ich muss mit Ihnen reden«, sagte er und ließ sich am Esstisch nieder. Noch bevor sich Knupp gesetzt hatte, fuhr er fort: »Ich habe Ihren Rat befolgt und die Frau im Antiquariat gefragt, weshalb sie so sicher sei, dass Laura kurz vor Weihnachten bei ihr war.«
    Knupp setzte sich: »Und?«
    Taler erzählte von der Schiwago-Mütze und den Christbaumkugeln.
    Als er geendet hatte, sagte Knupp: »Klingt doch überzeugend, nicht?«
    »Das dachte ich mir: Es überrascht Sie nicht.«
    »Ein wenig schon, denn es ist selten. Aber es kommt vor.«
    »Wie denn? Ich dachte, dazu müsse jede Veränderung rückgängig gemacht werden?«
    Knupp seufzte. »Ich habe schon eine Erklärung, aber sie ist so simpel, dass sie unser Vorstellungsvermögen überfordert.«
    »Wie lautet sie?«
    »Wenn es keine Zeit gibt, dann gibt es auch keine Vergangenheit und keine Zukunft. Logisch?«
    »Logisch.«
    Knupp, wieder ganz in seinem Lehrerton. »Was folgern wir daraus? Richtig, alles, was geschieht, geschieht – fast hätte ich gesagt ›gleichzeitig‹, aber es müsste eher heißen ›unzeitig‹ oder ›zeitfrei‹. Erinnern wir uns an das Motto von Kerbelers Buch: ›Noch nie ist etwas in der Vergangenheit geschehen und noch nie etwas in der Zukunft.‹«
    »Weiter«, drängte Taler.
    »Die Frau hat gesagt, Laura sei oft gekommen. Vielleicht hat sie dabei einmal die Pelzmütze getragen. Vielleicht war die Ladenbesitzerin einmal dabei, den Christbaum zu schmücken. Aber weil es die Zeit nicht gibt, ist beides zeitfrei geschehen.«
    Peter Taler versuchte, es sich vorzustellen, aber es überstieg sein Vorstellungsvermögen. »Man könnte es auch einfacher sagen: Frau Neuschmid ist eine alte Frau, und alte Menschen bringen manchmal Dinge durcheinander.«
    Knupp lächelte. »Stimmt. Aber die Wahrheit ist: Je älter man wird, desto bedeutungsloser wird die Zeit. Auch wenn man nicht an ihre Inexistenz glaubt. Und von der Bedeutungslosigkeit zur Inexistenz ist es nur ein ganz winziger Schritt.«

12
     
    Laura hatte sich oft über seine Ungeschicklichkeit lustig gemacht. Sie mit ihrem Zeichentalent, ihrer gestochenen Schrift und ihrer ruhigen Hand amüsierte sich über sein zeichnerisches Unvermögen und seine ungelenke Schrift.
    Dass das Schicksal ausgerechnet ihn auserkoren hatte, dem zittrigen Mann als Zeichner zu dienen, hätte sie bestimmt sehr amüsiert.
    Sie standen am Zeichentisch in Knupps Vermessungszimmer über ein großes Millimeterpapier gebeugt, und Knupp diktierte ihm Messdaten. Taler zählte angestrengt die Millimeter, verlor immer wieder die Orientierung und musste von neuem beginnen.
    »Ich dachte, Sie seien Buchhalter«, maulte Knupp.
    »Eben. Buchhalter, nicht Geometer.«
    Es ging darum, einen Plan des Gartens zu zeichnen. Sie waren schon den ganzen Abend damit beschäftigt und hatten gerade mal die Grenzen des Vorgartens fertig. Nun waren sie dabei, die Fixpunkte einzutragen, die sie ausgemessen hatten: Sitzplatz, Zaun, Spalier, Wäschestange, Steingarten und Plattenweg.
    Sobald diese Landmarken auf die Pläne von Vor- und Hintergarten eingetragen sein würden, wollte Knupp sie auf die Fotos von neunzehnhunderteinundneunzig übertragen. Erst dann konnte die eigentliche Rekonstruktion beginnen.
    Obwohl ihm die Arbeit schwerfiel, machte sie ihm Spaß. Er hatte sich auch an die Ruppigkeit des alten Mannes gewöhnt. Nicht, weil er sich einredete, dieser meine es nicht so und sei im Grunde ein herzensguter Mensch. Er meinte es genau so, und dass er ein herzensguter Mensch war, bezweifelte Taler. Aber es hatte sich nun einmal so ergeben, dass dieser alte Kauz der Mensch auf der Welt war, den er am besten verstand.
    Er gestand sich ein, dass ihn das Projekt faszinierte. Ob er daran glaubte oder nicht, war zur Nebensache geworden. Es füllte die Leere aus, die seit Lauras Tod sein ganzes Leben bestimmte. Es beendete die Lähmung und die Hilflosigkeit, die ihn seither befallen hatten. Die Hoffnung, den Täter zu erwischen, war nicht mehr das Einzige, was ihn am Leben hielt.
    Am Ende dieses Abends, an dem er sich – immerhin mit annehmbarem Resultat – als Bauzeichner versucht hatte, steckte Knupp ihm einen Umschlag zu. Wie ein Pate seinem Patenkind einen kleinen Zustupf.
    Noch bevor er seinen Hauseingang erreicht hatte, riss er das Kuvert auf. Es enthielt ein

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