Die Zeit, die Zeit (German Edition)
einziges Negativ in einer durchsichtigen Hülle.
Er scannte es und betrachtete das Resultat auf Lauras großem Bildschirm. Das Foto musste aus derselben Serie stammen wie das letzte, das Knupp ihm gegeben hatte: das bei den Briefkästen aufgebockte Moped, der Fahrer beim Haus. Aber hier war er der Kamera zugewandt.
Er war im Begriff, das Haus zu verlassen!
Der Ruck, mit dem Taler von Lauras Bürostuhl aufsprang, ließ diesen mit einem Knall gegen die Wand rollen. Er riss die Tür auf und begann, mit tief in den Hosentaschen vergrabenen Fäusten in der Wohnung herumzutigern.
Was bedeutete das? Wer hatte ihn eingelassen? Laura? Bestand eine Verbindung zwischen Laura und ihrem Mörder? Hatte sie ihn gekannt?
Er ging zurück zum Bildschirm.
Man sah das Gesicht. Er stand im Türrahmen, hielt mit der Rechten noch die Tür und fasste mit der Linken an das Visier, als wollte er es gerade runterklappen. Die Teile des Gesichts, die nicht von dem Integralhelm verdeckt waren – Augen, Nase und Oberlippe –, lagen zwar im Schatten der Verschalung, aber Taler konnte sie mit dem Bildverwaltungsprogramm so weit aufhellen, dass mehr zu erkennen war. Der Mann hatte einen breiten Nasenrücken und trug entweder einen Schnurr- oder Vollbart. Oder war einfach unrasiert. Er war dunkel- oder schwarzhaarig. Und eher jung.
Zum ersten Mal sah Taler auch die Windjacke von vorn. Es war wohl eine Army-Jacke mit Schulterpatten und vielen Taschen. Er trug sie offen, und man sah, dass er schlank war.
Er hatte Jeans an und ein beschriftetes Sweatshirt, man erkannte die Buchstaben A und W. Die Schuhe liefen spitz zu, und ihr Oberleder schien aus einem Stück zu sein. Stiefel oder Stiefeletten.
Das war zwar nicht viel, aber immerhin ergab es eine Personenbeschreibung: 20 bis 25 Jahre, dunkelhaarig, schlank, trug Integralhelm, Army-Jacke, Jeans, beschriftetes Sweatshirt und Stiefel oder Stiefeletten. Fuhr ein dunkles Moped der Marke Piaggio Ciao.
Die Größe? Klein war er nicht. Mittelgroß?
Taler ging zum Besenschrank und holte den Klappmeter aus dem Werkzeugkasten. Er eilte die Treppe hinunter zum Hauseingang und maß den Türrahmen.
»Guten Abend, Herr Taler.«
Es waren die Kellers vom ersten Stock. Taler hatte sie nicht kommen hören.
Er grüßte und ließ sie vorbei. Frau Keller roch nach einem schweren Parfum, das nicht so recht zu ihrem zarten, etwas unscheinbaren Äußeren passen wollte. Sie blickten auf sein Metermaß, kommentierten es aber nicht. Seit Taler regelmäßig mit Knupp bei mysteriösen Vermessungsarbeiten gesehen wurde, wunderten sich die Nachbarn über nichts mehr.
Die Höhe des Türrahmens betrug zwei Meter zehn. Taler maß den Mopedfahrer und verglich das Resultat mit der Höhe des Türstocks. Nach Abzug des Helms kam er auf fast einen Meter neunzig.
Er hängte das Foto an eine E-Mail, tippte die Personenbeschreibung als Nachricht dazu und adressierte sie an Marti.
Aber dann überlegte er es sich anders und löschte die Mail. Mit dieser Beschreibung, dachte er, kriege ich den selbst zu fassen.
Am nächsten Abend beendeten sie die Arbeit am Grundriss des Vorgartens und spannten für den Hintergarten ein neues Millimeterpapier auf das Zeichenbrett. Knupp konsultierte sein Notizbuch. »Ecke Geräteschuppen, Pfeiler Kompost, Plattenweg, Birke. Womit fangen wir an?«
»Mit der Birke«, schlug Taler vor. Ihre Krone überragte das Fenster des Vermessungszimmers und versperrte die Aussicht auf die Villa. »Wie hoch war sie denn vor zwanzig Jahren?«
Knupp zeigte auf eines der Fotos an der Wand. Taler ging näher heran. Es war eine Innenaufnahme. Das Stück einer Kommode war zu sehen, gegenüber ein Bettpfosten, in der Mitte ein Rosenstrauß in einer bauchigen Blumenvase auf einem Schreibtisch, der am Fenster stand. Beide Flügel standen offen. In der Unschärfe waren eine Baumkrone zu erkennen und eine Hausfassade zu erahnen.
Der Raum sah aus wie ein Zimmer in einer preisgünstigen Pension. Nach Bohnerwachs riechend und der Seife, die am Waschbeckenrand lag.
»Das war früher das Gästezimmer. Es ist leider das einzige Bild, das ich von der Birke habe.«
Taler studierte das Foto. »Auch damals schon ein großer Baum.«
»Kein Problem. In den Baumschulen findet man sie noch größer.«
Sie wandten sich wieder dem Zeichenbrett zu, Knupp nannte die Koordinaten, Taler trug sie ein.
»Erzählen Sie mir mehr von dem Mann auf dem Moped«, sagte Taler nebenbei. Als ginge es ihm darum, ein wenig Abwechslung in die
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