Die Zeit, die Zeit (German Edition)
Bernoulli machte sich Taler auf den Weg zum Antiquariat Librorum.
Frau Neuschmid hatte einen Kunden, Taler musste warten. Es war ein kleiner Mann um die fünfzig in einem grauen Dreiteiler mit streng gescheiteltem kurzem Haar und einer randlosen Brille.
Er zeigte auf die Bücher in den Regalen, die ihm die alte Dame auf der Leiter herunterreichen sollte. Er musterte sie von allen Seiten, schlug sie auf, roch sogar kurz daran, und wenn sie ihm zusagten, legte er sie in eine der drei Aluminiumkisten, die neben ihm auf dem Boden standen. Inhalt oder bibliographische Angaben der Bücher schienen ihn nicht zu interessieren.
Frau Neuschmid hatte Peter Taler zugerufen: »Schauen Sie sich doch einfach etwas um, ich bin gleich bei Ihnen.« Aber es dauerte eine ganze Weile, bis der Mann bezahlt und mit den Worten »Herr Gut holt sie am Nachmittag ab, wie immer« das Geschäft verließ.
»Sieht aus wie ein Literaturprofessor, ist aber Innenarchitekt«, erklärte Frau Neuschmid. »Kauft immer Bücher zur Dekoration der Regale seiner Kunden. Es tut mir zwar in der Seele weh, aber man muss ja von etwas leben. Suchen Sie etwas Bestimmtes?«
»Ich komme nochmals wegen dieses Buches über die Zeit. Erinnern Sie sich?«
»Sie sind der Mann, dessen Frau… Oder war es die Freundin?«
»Sie sagten, dass sie kurz vor Weihnachten das Buch bestellt habe. Kurz vor Weihnachten war sie aber schon ein halbes Jahr tot.«
»Ich weiß. Es tut mir leid, dass mir das passiert ist. Ich habe ein schlechtes Zeitgefühl.«
»Sie sagten, Sie seien sich ganz sicher.«
»Ach, wissen Sie, in meinem Alter.«
»Weshalb waren Sie sich so sicher?«
Unter den dicken Lidstrichen blickten ihn ihre grünen Augen prüfend an. »Nehmen Sie die Zeit nicht so ernst. Es gibt sie nicht.«
Der schon halbbekehrte Peter Taler widersprach nicht. Er sagte nur: »Aber die Veränderung gibt es. Welche Veränderungen deuteten denn darauf hin, dass es kurz vor Weihnachten war, als Laura das Buch bestellte?«
Frau Neuschmid zögerte. »Wahrscheinlich hat mich mein Gedächtnis getäuscht.« Taler wartete, und als sie noch immer zauderte, nickte er ihr aufmunternd zu.
»Sie trug eine Pelzmütze, tief in die Stirn gezogen, es sah sehr hübsch aus. Ich fragte sie, ob das Nutria sei, sie antwortete, nein, es sei künstlich, aber es fühle sich an wie echt. Ich berührte das Fell, und tatsächlich: wie echt.«
Laura hatte wirklich so eine Mütze besessen. »Schiwago-Mütze« hatte sie sie genannt. »Die hat sie bis zum Frühling getragen.«
»Aber es war kurz vor Weihnachten. Ich habe immer einen Christbaum im Laden. Als sie das letzte Mal kam, war ich gerade dabei, ihn zu dekorieren. Ich stand auf der Leiter, und sie reichte mir die Kugeln herauf.«
»Das muss dann vorletzte Weihnacht gewesen sein.«
Frau Neuschmid schüttelte den Kopf. »Nein, vorletzte Weihnacht war ich im Spital. Oberschenkelhals. Dann muss es die vorvorletzte gewesen sein.«
Jetzt war er es, der den Kopf schüttelte. »Da hatte sie die Mütze noch nicht.«
Taler machte Licht und sah auf den Wecker. Es war ein Uhr dreißig, er hatte erst eine Stunde geschlafen. Er stand auf und machte sich einen Orangenblütentee, Lauras Rezept gegen Schlaflosigkeit. Er nahm ihn mit ins Schlafzimmer, stopfte sich ein Kissen hinter den Rücken und wartete, bis der Tee sich so weit abgekühlt hatte, dass er ihn trinken konnte.
Das Foto mit der leicht verschwommenen Laura bei den Briefkästen kam ihm wieder in den Sinn. Und Frau Neuschmid vom Antiquariat Librorum. Ihre Erklärung, warum sie so sicher sei, dass Lauras Besuch kurz vor Weihnachten stattgefunden habe, war plausibel. Jetzt, in diesem unwirklichen Zustand, in den ihn die Übermüdung und der Umgang mit Knupp versetzt hatten, kam ihm die Vorstellung, dass es keine Zeit gab, nicht mehr so unwahrscheinlich vor. Und wenn es keine Zeit gab, gab es auch das Jahr nicht, das seit Lauras Tod vergangen war.
Der Tee war jetzt so weit abgekühlt, dass er ihn trinken konnte. Peter löschte das Licht. Doch der Gedanke ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.
Zeit und Raum. Wenn es die Zeit nicht gab, dann blieb der Raum. Und irgendwo in diesem musste sich Laura befinden.
»Nein danke«, sagte Peter Taler, als Knupp ihm ein Bier anbot. Er wollte dieses Gespräch mit ungetrübtem Verstand führen.
Er hatte nicht lange überlegen müssen, mit wem er über die Sache sprechen könnte. So ernüchternd die Erkenntnis auch war: Knupp war der Einzige weit und breit.
Er war,
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