Die Zeit-Moleküle
die ganze Schmalseite des Labors aus, war mit Zifferblättern, Schlagwerken, Weckern, kleinen Klapptüren übersät, aus denen Männchen mit Regenschirmen, Herolde mit Trompeten und Kuckucks herauskamen und ein Hund, der eine Wurst bellend verteidigte. Auch ein Feuerwehrmann, der das Mundstück seines Schlauches auf den Zuschauer richtete, ohne ihn tatsächlich mit Wasser zu überschütten. Die Zeiger der Uhr sagten zwar, wann der nächste Zug von irgendeinem Dorf in Bengalen nach Kalkutta abging, und irrten in diesem Punkt nie. Sie sagten, wo die Züge wegen Überschwemmung, Waldbränden oder Seuchen ausfielen. Aber eines taten sie nicht – schon gar nicht an dieser Stelle – die richtige Zeit angeben. Sie zeigten nicht die wahre Zeit an. Nicht die richtige Sekunde, den richtigen Tag, den richtigen Monat oder das richtige Jahr.
Wenn man das wissen wollte, mußte man sich schon an den kleinen Computer wenden, der auch für die Verrücktheit der Laboratoriumsuhr verantwortlich war. Dieser kleine Computer hatte natürlich immer recht.
»… mein lieber Freund, ich vernachlässige Sie ja! Wie war der Kaffee? Fad, wie ich vermute. Komisch, daß man trotz all dem« – seine Handbewegung schloß die ganze zivilisierte Welt ein – »nicht einmal eine wirklich gute Tasse heißen Kaffees zustande bringt. Eigentlich gar nicht so komisch. Ein wirklich ungetrübter Segen für die Menschheit war doch von Anfang an nicht drin … Sollen wir endlich mit dem Experiment beginnen?«
Der Professor starrte Silberstein an, als wäre dieser der Grund für alle Verzögerungen und Pannen.
»Vergessen Sie nicht, sich die Ohren zu verstopfen. Der Start erfolgt ungefähr fünfzig Sekunden nach der Aktivation. Liza? Bitte, alle Hebel der Reihe nach schalten.«
Das übliche elektronische Gejaule erfüllte den Raum mit anschwellender Tonhöhe. Wie der Trommelwirbel vor dem Zirkustrick. David Silberstein fragte sich, ob dieses Gejaule wirklich nötig war oder nur eine kleine Effekthascherei. Er hatte irgendwo einmal gelesen, daß man früher in amerikanischen Gefängnissen ein ähnliches Jaulen hörte, bevor ein Gefangener auf dem elektrischen Stuhl starb.
»In dieser Phase«, erklärte Professor Krawschensky, »findet die Anti-Chronokül-Pufferung oder Bremsung statt. Wenn sich der Ton ändert, setzt die Beschleunigungsphase ein.«
Der Ton änderte sich wie auf Kommando. Wie in einem schlechten Film oder in einem exakten wissenschaftlichen Experiment.
»Diese Wechselphasen sind natürlich computergesteuert. Die Pufferung ist kein geradliniger Prozeß. Dementsprechend ist auch die Beschleunigungsphase variabel.«
David Silberstein stopfte sich die bereitliegenden Wattebäuschchen in die Ohren und blickte automatisch auf die Uhr. Doch deren Zeiger drehten sich wie bei einer Windmühle im umgekehrten Uhrzeigersinn. Der Lärm wurde trotz der Watte fast unerträglich, aber die Trommelfelle hielten stand. Professor Krawschensky bewegte immer noch die Lippen, referierte hartnäckig weiter über sein Experiment. Dann brach der Lärm plötzlich ab und hallte schmerzvoll im ganzen Körper nach.
Der Stuhl auf der Bühne flimmerte für den Bruchteil einer Sekunde auf und verschwand. Sogleich folgte der Knall der Implosion, als die Luft das Vakuum ausfüllte, das flimmernde Nichts im Fokus der sechs Beschleuniger. Trotz der lärmenden Umstände war das ein dramatischer Moment, ein erregender sogar. Beklemmend. Unheimlich für einen Mann, der nicht an Zauberei glaubte. Doch Erklärungen vernebelten meistens nur nüchterne Tatsachen. Hier fand aber echte Zauberei statt. Deswegen die Beklemmung.
»Haben Sie genau hingesehen? Haben Sie es gesehen?« Der Professor war offenbar lange nicht so zuversichtlich gewesen, wie er getan hatte. Jetzt jubilierte er. »Sehen Sie? Ein vollkommener Start, ein totales Verschwinden. Ich habe von Anfang an recht behalten. Die Existenz der Materie innerhalb unserer drei Dimensionen hängt nur von dem Widerstand dieser Materie gegen den Zeitfluß ab. Man entferne den Widerstand, und es passiert, was sie jetzt sehen. Der Zeitfluß übernimmt die Kontrolle und – hui – der Stuhl, wie wir ihn kennen, existiert nicht mehr.«
»Verraten Sie mir doch bitte, Professor, wo der Stuhl sich in diesem Augenblick befindet!«
Bei dem letzten Experiment, dem David Silberstein beigewohnt hatte, hatte die Entpufferung eine Porzellankanne in ein Häufchen Asche verwandelt. Er hatte sich gefragt, ob der Gründer, ob nicht
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