Die Zeitfalte
wirkte freundlich, obwohl die meisten Möbel mit der Zeit etwas schäbig geworden waren. Vor dem Klavier blieb er stehen und betrachtete das Foto, das darauf stand. Es zeigte einige Männer am Strand.
»Wer ist das?«
»Ach, das sind Wissenschaftler.«
»Wo wurde das Bild aufgenommen?«
Meg kam zu ihm. »In Cape Canaveral. Der hier ist mein Vater.«
»Welcher?«
»Der da.«
»Der mit der Brille?«
»Ja. Der mit den langen Haaren.« Meg kicherte. Es war schön, Calvin das Foto zeigen zu können; es half ihr über den Kummer hinweg. »Seine Haare haben ungefähr dieselbe Farbe wie meine. Und er vergißt immer, sie sich schneiden zu lassen. Bis Mutter mit der großen Schere kommt. Sie hat sogar eigens eine Haarschneidemaschine gekauft, denn er nimmt sich nie die Zeit für den Friseur.«
Calvin betrachtete das Foto eingehend. »Er wirkt sympathisch!« sagte er schließlich. »Charles Wallace schaut ihm recht ähnlich, was?«
Meg lachte wieder. »Als Baby war er geradezu eine Kopie von Vater! Das war wirklich komisch.«
Calvin ließ das Bild noch immer nicht aus den Augen. »Er ist nicht gerade eine Schönheit. Aber sympathisch.«
Meg war entrüstet. »Er sieht doch gut aus!«
Calvin schüttelte den Kopf. »Nein. Er ist lang und dürr wie ich.«
»Du siehst auch gut aus!« sagte Meg überzeugt. »Eure Augen gleichen einander sehr. Seine sind auch ganz hellblau, weißt du. Wegen der Brille kann man sie nur nicht richtig sehen.«
»Wo ist er denn jetzt?«
Meg erstarrte. Zum Glück blieb ihr die Antwort erspart, denn eben kam Frau Murry mit dem Topf in die Küche.
»So«, rief sie ins Wohnzimmer herüber, »jetzt kann das Zeug auf dem Herd fertigkochen, wie es sich gehört. Hast du deine Hausaufgaben schon gemacht, Meg?«
»Noch nicht ganz«, antwortete sie und ging mit Calvin in die Küche.
»Calvin hat sicher nichts dagegen, wenn du sie vor dem Essen rasch fertigmachst.«
»Laß dich nicht aufhalten!« Calvin fischte einen Haufen zerknitterter Zettel aus seiner Tasche. »Eigentlich sollte ja auch ich den Mist noch erledigen. Mathe. Da plage ich mich sehr, um mitzukommen. Wenn es um Wörter geht, habe ich keine Probleme, aber für Zahlen und Ziffern bin ich eine Niete.«
Frau Murry lächelte. »Warum läßt du dir nicht von Meg helfen?«
»Aber ich gehe doch in eine höhere Klasse.«
»Versuche es trotzdem«, schlug Frau Murry vor.
»Na, meinetwegen«, gab Calvin nach. »Hier – aber es ist ziemlich vertrackt.«
Meg glättete das Blatt und überflog das Beispiel. »Ist es egal, wie du auf die Lösung kommst?« fragte sie. »Oder mußt du es auf eine bestimmte Weise anpacken?«
»Na, wichtig ist nur, daß ich das Zeug kapiere und das Ergebnis stimmt.«
»Gut. Dann rechnen wir, wie ich es gelernt habe, und nicht so umständlich wie in der Schule. Schau her, Calvin! Warum schreibst du es nicht einfach so? Dann ist die Sache nur halb so schwer.« Ihr Stift flog über das Papier.
»He!« rief Calvin. »Klar! So geht das! Ich glaube, ich hab‘s begriffen! Zeigst du mir das zur Sicherheit noch an einem anderen Beispiel?«
Meg kritzelte bereits die Zahlen hin. »Du mußt nur davon ausgehen, daß jeder Bruch nichts anderes ist als eine Division; daher läßt sich das Ergebnis ebensogut als Dezimalzahl ausdrücken. Siehst du? Hier: aus 3 / 7 wird dann 0 , 428571 .«
»Ihr seid wirklich eine verrückte Familie!« Calvin grinste sie an. »Eigentlich sollte mich bei dir nichts mehr überraschen; aber ich frage mich doch, warum du dich in der Schule so dumm anstellst und ständig Scherereien hast.«
»Ich bin eben wirklich dumm.«
»Meg hat tatsächlich Schwierigkeiten in Mathematik«, sagte Frau Murry. »Aber nur, weil ihr Vater mit ihr immer Zahlenspielereien betrieben hat. Dabei hat sie eine Menge Tricks kennengelernt, und wenn sie jetzt in der Schule eine Aufgabe auf herkömmliche Weise lösen soll, kommt sie ins Trudeln, wird halsstarrig und blockiert sich selbst.«
»Gibt es hier noch mehr solche angeblichen Idioten wie Meg und Charles?« erkundigte sich Calvin. »Wenn ja, muß ich sie unbedingt kennenlernen.«
»Es wäre auch gut«, sagte Frau Murry, ohne auf die Bemerkung einzugehen, »wenn Meg etwas leserlicher schreiben würde. Ich kann ihr Gekritzel zur Not entziffern, aber ihre Lehrer haben weder Zeit noch Lust, sich die Mühe zu machen. Deshalb will ich Meg zu Weihnachten eine Schreibmaschine schenken. Das erleichtert die Sache vielleicht.«
Calvin blickte Meg an und nickte nachdenklich.
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