Die Zeitfalte
sie so leiden müssen unter einer Angst, die jenseits des Schauderns lag und weder durch Tränen noch durch Schreie gelindert werden konnte. Für diese Angst gab es keinen Trost.
Meg ließ langsam die Hand mit der Blume sinken, und wie ein Messer schnitt ihr die Kälte in die Lungen. Sie keuchte, aber die Luft war zu dünn zum Atmen. Dunkelheit legte sich auf ihre Augen, begann ihr Bewußtsein zu lahmen; aber als ihr die Sinne schwanden, sank ihr der Kopf auf die Brust, sank in die Blütenglocke, und der reine, süße Duft, den Meg nun wieder einatmete, richtete ihren Körper und ihren Geist erneut auf.
Der Schatten war noch immer da, dunkel und drohend.
Calvin hielt Megs Hand fest in der seinen, aber diese Geste bot ihr weder Kraft noch Sicherheit. Charles Wallace, der vor Meg saß, zitterte, saß aber im übrigen ganz unbewegt, wie starr.
»Er sollte das nicht ansehen müssen!« dachte Meg. »Das ist zu viel für einen Jungen in seinem Alter, mag er noch so außergewöhnlich und anders sein.«
Calvin wandte sich jetzt doch um, als könne er das Schwarze Ding nicht länger ertragen, das sogar das Licht der Sterne auszulöschen vermochte. »Jagen Sie es fort, Frau Wasdenn!« flüsterte er. »Es muß weg. Es ist böse.«
Behutsam veränderte das große Geschöpf seine Lage so, daß der Schatten wieder in ihrem Rücken lag. Nun blickten sie erneut in einen weiten, ungetrübten Sternenhimmel. Sanft floß das Licht über die felsigen Hänge des Berges. Langsam versank die große Mondscheibe am Horizont …
Und dann, Frau Wasdenn hatte sie mit keinem Wort gewarnt, waren sie plötzlich wieder in der Luft. Diesmal ging die Reise abwärts, tiefer und immer tiefer.
Als sie die Wolkendecke durchstoßen hatten, sagte Frau Wasdenn: »Nun könnt ihr ohne die Blumen atmen.«
Sonst nichts. Kein weiteres Wort fiel. Es war, als habe der Schatten mit seiner dunklen Macht nach ihnen gegriffen, sie berührt und sie der Sprache beraubt.
Erst als sie wieder die Blumenwiese erreicht hatten – jetzt lag sie voll im Licht der Sterne und des Mondes, eines anderen, kleineren, gelben Mondes —, wich diese Starre aus ihren Körpern; und sie erkannten, daß auch der Leib des schönen Geschöpfes, das sie getragen hatte, starr gewesen war.
Mit einer anmutigen Bewegung setzte Frau Wasdenn auf dem Boden auf und faltete die Flügel.
Charles Wallace glitt als erster zu Boden. »Frau Diedas!« rief er. »Frau Dergestalt!«
Gleich begann die Luft zu flirren. Die Brille von Frau Diedas blitzte auf. Frau Dergestalt erschien ebenfalls, aber ihr fiel es offenbar tatsächlich schwerer als den beiden anderen, sich völlig zu materialisieren. Der Mantel und der Spitzhut wurden zwar sichtbar, aber Meg konnte durch die Gestalt hindurch den Berg und die Sterne sehen.
Meg rutschte von Frau Wasdenns Rücken und ging, nach dem langen Ritt ganz wackelig auf den Beinen, auf Frau Dergestalt zu.
»Der Schatten, den wir sahen«, sagte sie, »ist das das Schwarze Ding, gegen das mein Vater kämpft?«
Die Tesserung
»J a«, sagte Frau Dergestalt. »Deinn Vatterr istt hinterr dem Schwarrzenn Dingg. Nnicht einmall wirr könnenn ihn sehenn.«
Meg begann heftig zu weinen. Durch den Tränenschleier sah sie Charles Wallace, sehr klein und hilflos, kreidebleich.
Calvin legte ihr den Arm um die Schultern, aber ihr schauderte, und sie riß sich los. Ihr Weinen war vollends außer Kontrolle geraten.
Da hüllte Frau Wasdenn sie in ihre weiten Flügel, und Meg wurde von einem Gefühl des Trostes und der Stärke erfaßt.
Frau Wasdenn sprach leise auf sie ein: »Du darfst nicht verzweifeln, mein Kind! Glaubst du denn, wir hätten dich hierhergebracht, wenn es keine Aussicht auf Hoffnung gäbe? Wir haben einen sehr schweren Auftrag für dich, aber wir sind voll Zuversicht, daß du ihn erfüllen kannst. Dein Vater braucht Hilfe. Er wird aber auch all seinen Mut brauchen. Und wir hoffen, daß er für seine Kinder etwas vollbringen kann, was er für sich selbst nicht zu leisten vermag.«
»Nnun dennn«, sagte Frau Dergestalt. »Sseid ihrr bbereit?«
»Wohin müssen wir?« fragte Calvin.
Wieder spürte Meg die Angst wie ein Prickeln in sich aufsteigen, als Frau Dergestalt sagte: »Wwir müssenn hinnter den Schattenn ggelangenn.«
»Aber wir übereilen nichts«, versuchte Frau Wasdenn die Kinder zu beruhigen. »Wir gehen Schritt für Schritt vor.« Sie blickte Meg an. »Jetzt werden wir wieder tessern. Wir bringen die Zeit dazu, sich zu falten. Verstehst du, was ich
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