Die Zeitfalte
sind.«
Meg achtete kaum auf diesen Einwand. »Ich möchte wissen, was sie sagen! Ich möchte erfahren, was diese Musik bedeutet!«
»Dann versuche es doch, Charles«, forderte Frau Wasdenn ihn auf. »Versuche, es zu übersetzen. Du kannst dich jetzt wieder geben, wie du bist. Du mußt dich nicht länger verstellen.«
»Es geht nicht!« rief Charles Wallace gequält. »Ich kann es nicht. Noch nicht.«
»Dann probieren wir es eben gemeinsam. Vielleicht gelingt mir mit deiner Hilfe, die richtigen Worte zu finden.«
Charles Wallace begann sich wieder ganz intensiv zu konzentrieren.
»Den Gesichtsausdruck kenne ich!« fiel es Meg plötzlich ein. »Ich glaube, ich weiß, was er bedeutet!« überlegte sie. »So habe ich manchmal selbst dreingesehen, wenn ich mit Vater über einer Rechenaufgabe brütete und wir der Lösung ganz nahe waren … «
Frau Wasdenn schien seinen Gedanken zu lauschen. »Ja«, sagte sie. »Ja, so könnte man es umschreiben. Wie schade, daß du nicht selbst alles gut genug verstehst, um es mir direkt zu übertragen. Was wir hier machen, ist so schrecklich umständlich.«
»Seien Sie bloß nicht faul!« sagte Charles.
Frau Wasdenn war über diese Bemerkung keineswegs gekränkt. »Aber ich tue es doch gern!« sagte sie. »Nichts täte ich lieber, Charles. Deshalb durfte ich doch mitkommen, obwohl ich noch so jung bin. Weil es meine einzige wirkliche Begabung ist. Aber diese Arbeit ist sehr kräfteraubend, und wir werden all unsere Kraft für das brauchen, was noch vor uns liegt. Trotzdem will ich es versuchen; Calvin und Meg zuliebe will ich es versuchen.«
Sie konzentrierte sich. Die großen Schwingen standen beinahe still; ihr Körper wurde nur noch von der sanften Brise getragen.
»Also, hört zu!« sagte sie schließlich.
Volltönig begann sie zu singen; und die Worte schienen Meg einzuhüllen; sie wurden so greifbar, daß Meg meinte, die Hände danach ausstrecken und den Klang berühren zu können:
*
»Lobet den Schöpfer und preist seine Werke!
Freist bis ans Ende der Welt seine Stärke!
Laßt unser Loblied die Länder durchschallen,
laßt es vom offenen Meer widerhallen,
singet – und bringet die Wüsten zum Blühen,
singet – und bringet die Berge zum Glühen,
Laßt uns frohlocken, beseelt unsern Stern,
Lobsinget dem Schöpfer, preiset den Herrn!«
Meg wurde in einem noch nie erlebtem Maß von Freude durchdrungen. Calvin streckte ihr die Hand entgegen; aber er faßte sie nicht an; nur leise berührten seine Finger die ihren; und Freude durchströmte sie beide, hüllte sie ein, umgab sie, erfüllte sie ganz.
Als Frau Wasdenn seufzte, schien es unfaßbar, daß in diesem Meer von Seligkeit auch nur der kleinste Zweifel Raum finden konnte. »Nun müssen wir aber weiter, Kinder!« sagte sie, und ihre Stimme verriet Trauer und Sorge, die sich Meg nicht zu erklären vermochte.
Frau Wasdenn warf den Kopf zurück und stieß einen Ruf aus, der wie ein Befehl klang. Eines der Geschöpfe, die tief unten zwischen den Bäumen schwebten, blickte daraufhin zu ihnen empor, lauschte, flog zu einem Strauch am Flußufer, pflückte drei Blumen und kam herbei, sie zu überbringen.
»Eine Blume für jeden«, sagte Frau Wasdenn. »Ich erkläre euch später, wie ihr sie anzuwenden habt.«
Als Meg ihre Blume bekam, sah sie, daß die Pflanze aus hunderten kleinen Blüten bestand, die gemeinsam eine glockenähnliche Hohlform bildeten.
»Wohin fliegen wir?« fragte Calvin.
»Es geht nach oben!«
Die Schwingen bewegten sich sicher und schnell. Der Garten und das Granit-Plateau mit seinen mächtigen Felsnadeln blieben zurück; und dann begann Frau Wasdenn an Höhe zu gewinnen; aufwärts ging es, höher und immer höher. Noch waren die Berghänge von Wald bedeckt; bald aber wuchsen die Bäume spärlicher und machten erst Buschwerk, dann Flechten Platz – und zuletzt war jeder Pflanzenwuchs verschwunden. Nur noch felsige Schrunde und Zacken ragten steil und gefährlich vor ihnen auf.
»Haltet euch fest!« warnte Frau Wasdenn. »Seht zu, daß ihr nicht von meinem Rücken gleitet!«
Calvin faßte Meg mit sicherem Griff um die Hüfte.
Immer noch ging es nach oben.
Jetzt gerieten sie in die Wolken. Sie konnten nichts mehr erkennen, nur driftende weiße Schwaden. Nässe hüllte sie ein, schlug sich an ihnen mit eisigen Tropfen nieder. Meg zitterte. Calvins Arm schloß sich enger um sie. Vor ihr saß Charles Wallace und bewegte sich kaum. Nur einmal wandte er sich kurz nach ihr um und musterte sie
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