Die Zeitfalte
mit einem zugleich besorgten und liebevollen Blick. Dennoch empfand Meg ganz deutlich, daß Charles Wallace ihr mit jedem Augenblick mehr entglitt, daß er allmählich ein anderer wurde: er war nicht länger ihr süßer kleiner Bruder; er wurde mehr und mehr eins mit dem, was diese Wesen, diese Geschöpfe in Wirklichkeit waren und bloß als Frau Wasdenn, Frau Diedas und Frau Dergestalt verkörpert hatten.
Übergangslos brachen sie aus den Wolken und gerieten in ein helles Lichtbündel. Unter ihnen, vor ihnen und über ihnen erstreckte sich noch immer der Berghang. Aber obwohl die Felswand bis in den Himmel zu ragen schien, konnte Meg jetzt doch erkennen, wo ihr Ende war.
Frau Wasdenn kreiste weiter und weiter nach oben und mußte sich dabei immer heftiger anstrengen.
Megs Herz schlug zum Zerspringen; kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn; ihre Lippen wurden allmählich blau. Sie rang nach Atem.
»Es ist so weit, Kinder!« rief Frau Wasdenn ihnen zu. »Nehmt jetzt eure Blumen. Die Luft wird noch dünner werden. Haltet die Blumen vors Gesicht und atmet durch sie hindurch. Sie werden euch mit Sauerstoff versorgen. So viel, wie ihr gewöhnt seid, ist es nicht, aber es wird reichen.«
Meg hatte beinahe vergessen, daß sie die Blume mitgenommen hatte. Zum Glück hielten ihre Finger sie noch immer umklammert; sie hatte sie nicht fallen lassen.
Meg preßte ihr Gesicht in die Blüten und atmete tief.
Mit einer Hand stützte Calvin weiterhin Meg, in der anderen hielt er die Blume.
Charles Wallace folgte der Aufforderung wie abwesend, wie im Traum.
Frau Wasdenns Flügel kämpften gegen die dünner werdende Luft an. Es war nicht mehr weit zum Gipfel – und zuletzt hatten sie ihn erreicht. Frau Wasdenn ließ sich auf einer kleinen Plattform nieder; der Stein war glatt und schimmerte hell.
Vor ihnen stand eine große weiße Scheibe am Himmel.
»Das ist einer der Monde von Uriel«, erklärte Frau Wasdenn, ein wenig atemlos.
»Oh, ist er schön!« rief Meg. »So schön!«
Das Silberlicht, das von dem riesigen Mond ausging, ergoß sich über sie, vermischte sich mit dem goldenen Abglanz des Tages, hüllte die Kinder, Frau Wasdenn und den Berggipfel ein.
»Und jetzt drehen wir uns um«, sagte Frau Wasdenn, und ihre Worte klangen so, daß Meg von neuem erschrak.
Als sie aber in die Gegenrichtung blickte, sah sie nichts Besonderes. Vor ihnen lag der klare, blaßblaue Himmel; unter ihnen ragten die Felshänge aus dem weißen Wolkenmeer.
»Wir müssen warten«, sagte Frau Wasdenn, »bis Sonne und Mond untergegangen sind.«
Schon begann es ein wenig zu dunkeln.
»Ich möchte den Monduntergang beobachten«, sagte Charles Wallace.
»Nein, mein Kind. Keines von euch darf sich umdrehen. Blickt geradewegs ins Dunkel. Dann werdet ihr besser erkennen, was ich euch zu zeigen habe. Schaut geradeaus, immer geradeaus, so weit euer Blick nur trägt.«
Megs Augen begannen zu schmerzen, so angestrengt starrte sie in den Himmel, konnte zunächst aber nichts erkennen. Dann jedoch meinte sie, über den Wolken, die den Berg umkreisten, einen Schatten zu sehen, einen winzigen dunklen Fleck, so weit entfernt, daß sie nicht sicher war, ob sie ihren Augen trauen durfte.
»Was ist das?« fragte Charles Wallace.
»Der Schatten dort drüben – oder was immer das ist – gefällt mir gar nicht«, sagte Calvin. »Was hat er zu bedeuten?«
»Schau selbst!« befahl Frau Wasdenn.
Es war tatsächlich ein Schatten, nichts weiter als ein Schatten. Er war flüchtiger als eine Wolke. Wer – oder: was? – warf diesen Schatten? Oder war er ein … ein Ding für sich?
Der Himmel verfinsterte sich. Der goldene Schimmer verblaßte. Das Licht wurde blau, immer dunkler blau, bis der Himmel zuletzt tief und leer war. Ein erster Stern blinkte auf, ein anderer folgte, und wieder einer, und wieder einer.
Bald war der Nachthimmel übersät von Sternen – so viele auf einmal hatte Meg noch nie gesehen.
»Das kommt davon«, sagte Frau Wasdenn, als hätte sie Megs Gedanken gelesen, »daß hier die Luft so dünn ist. Die Sicht wird nicht behindert, wie auf der Erde; sie ist unbegrenzt. – Aber jetzt schaut! Schaut immer geradeaus!«
Meg tat es. Der dunkle Schatten war noch immer da. Die aufkeimende Nacht hatte ihn weder geschwächt noch vertrieben. Und dort, wo der Schatten war, gab es keine Sterne.
Welche Bewandtnis hatte es mit diesem Schatten? Warum flößte er ihr so schreckliche Angst ein? Noch nie hatte sie solche Angst gelitten; nie wieder würde
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