Die Zeitmaschine Karls des Großen (German Edition)
ihn ein Peitschenhieb getroffen, fuhr er schreiend auf. Die Mönche in den benachbarten Betten erwachten abrupt und sahen Gallus aufrecht sitzen, mit weit aufgerissenen Augen und schweißglänzender Stirn.
»Derartig mächtige Visionen ganz ohne Meditation oder vorangegangene Riten und Beschwörungen sind außergewöhnlich«, sagte Abt Albericus nachdenklich.
Gallus saß in Decken gehüllt im Studierzimmer des Vorstehers des Klosters von Mons Securus, immer noch totenbleich und gezeichnet von den Bildern, die ihn heimgesucht hatten. Außer dem Abt waren lediglich Thomas, der scriptor primus, und Petronius, der älteste und erfahrenste der Traumdeuter des Ordens anwesend.
»Bruder Gallus ist, wie sich in der Vergangenheit schon öfters gezeigt hat, empfänglicher für Visionen als die meisten anderen«, meine Thomas und fuhr fort: »Dennoch, dass sich eine Wahrnehmung so kraftvoll manifestiert, ganz ohne Einwirkung von außen, ist wirklich selten. In den Aufzeichnungen ist nur ein ähnlicher Fall erwähnt, und er liegt über hundertvierzig Jahre zurück. Die Vision, die Bruder Gallus hatte, muss außerordentlich bedeutend sein.«
»Der Ansicht bin ich auch.« Petronius las noch einmal das Protokoll, das Thomas von Gallus’ Schilderung seines Traumes angefertigt hatte. »Auf gar keinen Fall handelt es sich um einen gewöhnlichen Albtraum. Diese Bilder und Symbole sind höchst verwirrend, ich bin mir ihrer Bedeutung nicht sicher. Ich werde mich damit eingehend befassen und die Archive nach vergleichbaren Visionen durchsuchen, ehe ich mir ein Urteil bilde. Aber es wird Zeit brauchen, alles ist sehr unklar. Und wir dürfen auch nicht vergessen, dass dies die erste Vision seit Wochen war, die den Schleier der Finsternis, der sich über die Zukunft gelegt hat, durchbrechen konnte. Sie muss daher bedeutend sein.«
Abt Albericus wusste, was es hieß, wenn der ergraute alte Traumdeuter so sprach. In der Tat war Gallus’ Schilderung seines Traums gleichermaßen nebelhaft wie auch beunruhigend, und man durfte dieses Ereignis nicht auf die leichte Schulter nehmen. Gallus war ein Vierteljahrhundert zuvor in den Orden des heiligen Spicarius eingetreten, nachdem er im Alter von siebzehn Jahren seiner Fähigkeiten bewusst geworden war. Schon früh hatte sich herausgestellt, dass er weitaus begabter war als jeder andere seit dem schon legendären Abt Epiphanius, er fand mit großer Leichtigkeit Zugang zur Magie, besonders zur Kunst der Prophezeiung. Er studierte mit großem Eifer, und je mehr er seine Kenntnisse der magischen Praktiken aus den alten Schriften erweiterte, desto vielschichtiger wurden seine Wahrsagungen, von denen sich nie eine als falsch erwiesen hatte. Gallus war ohne Zweifel der bei Weitem beste Wahrsager des Ordens und somit des ganzen Imperiums, und es galt als sicher, dass er eines Tages den Stuhl des Abtes innehaben würde. Doch wie Albericus ihn im Moment vor sich sitzen sah, zitternd als Folge des Schocks und zusammengesunken zwischen den Decken, wurde ihm auf bedrückende Weise klar, dass diese außergewöhnliche Begabung zuweilen eher Fluch als Segen sein konnte.
»Der tot vom Himmel stürzende Adler … dieses Bild gefällt mir gar nicht«, sagte Thomas halblaut zu sich selbst.
»Mir geht es ähnlich«, bestätigte Petronius, »aber wir wissen noch nicht, welche Bedeutung der Adler hat. Das ergibt sich erst aus dem Zusammenhang, den ich noch zu ergründen hoffe. Sollten sich aber die Befürchtungen bestätigen, die wir wohl alle hier hegen und nur nicht auszusprechen wagen, dann müssen wir umgehend Rom benachrichtigen, wie es unsere Pflicht ist. Es könnte ein Zusammenhang bestehen mit dem Krieg gegen die Perser oder auch den religiösen Unruhen, die sich in einigen Regionen immer mehr ausbreiten.«
Albericus nickte. Die den Sturz des Adlers umgebenden Traumbilder voller Finsternis konnten Vorboten unermesslichen Unheils für das Imperium sein. Er ließ sich von Petronius das Schriftstück reichen und ging noch einmal die Zeilen durch.
Allmächtiger Gott, dachte er, während er die Worte des Schreckens las, als ob die Welt zerfällt …
22
Nahe Bethlehem
Im Thema Palaestina
Betretenes Schweigen herrschte unter den Offizieren, die im Zelt des Imperators versammelt waren. Alle standen noch unter dem Eindruck der Botschaft, die der arabische Späher eben gebracht hatte:
Die Perser waren an Jerusalem vorübergezogen.
»Was nun?«, fragte Rufus Scorpio. Er
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