Die Zeitmaschine Karls des Großen (German Edition)
klopfte sich Erde und trockene Pflanzenreste von der Tunika. Betrübt stellte er fest, dass grüne Flecken im weißen Baumwollstoff zurückblieben, aber seine Hauptsorge galt im Moment den Beobachtungen der vergangenen Stunden. Die Franken, bislang ausschließlich als Fußsoldaten bekannt, hatten es geschafft, innerhalb kurzer Zeit ein Reiterheer aufzubauen. Wann sie damit begonnen hatten, vermochte Andreas noch nicht zu sagen, aber er war sich sicher, dass es vor drei Jahren war – wie alle anderen unerklärlichen Vorgänge im Reiche Karls. Die eigentliche Frage war für ihn aber das Warum. Niemand, da gab es für ihn keinen Zweifel, schuf ohne Grund eine schwere Kavallerie.
Wer ein Schwert kauft, will es mit größter Wahrscheinlichkeit irgendwem über den Schädel ziehen, sei es nun zum Angriff oder zur Verteidigung. Aber wessen Schädel ist das in diesem Fall?
Während er zu dem Ort zurückging, wo er sein Pferd zurückgelassen hatte, überdachte er die Liste der möglichen Kriegsgegner Karls. Jenseits der Elbe, nördlich des jüngst eroberten Sachsen, wäre Abotritien ein lohnendes Ziel gewesen. Das slawische Königreich war klein, aber durch das Monopol auf den Bernsteinhandel ungemein reich. Überdies waren die Abodriten Heiden, was Karls missionarischem Eifer entgegengekommen wäre. Aber war die Landschaft dort überhaupt geeignet für einen Krieg mit schwerer Kavallerie? Panzerreiter dienten zum massiven Angriff in der offenen Feldschlacht, doch in dichten Wäldern oder unwegsamem Gelände waren sie verloren. Die Oströmer hatten das schmerzhaft erfahren müssen, als sie zwei Jahrhunderte zuvor die eingefallenen Awaren aus Dacia und Moesia zu vertreiben versucht hatten. Die Cataphracte, der Stolz des Imperium Orientalis, waren im zerklüfteten, bewaldeten Bergland hoffnungslos unterlegen gewesen. Erst mithilfe dreier Legionen aus dem Westreich war es schließlich gelungen, die Awaren zu besiegen, woraufhin sie nach Cappadocia umgesiedelt wurden.
Die Frage war also, wie die Voraussetzungen in Abotritien sein mochten. Andrerseits erschien es Andreas auch höchst zweifelhaft, dass Karl speziell für einen Krieg gegen das winzige Slawenreich die Mühe gemacht haben sollte, ein Reiterheer aus dem Boden zu stampfen, zumal ja das Gros seiner Infanterie immer noch in Sachsen stand und nur die Elbe hätte überschreiten müssen, um den chancenlosen Abotriten binnen Kurzem den Garaus zu machen. Ein Feldzug gegen die unzivilisierten Slawenstämme östlich der Elbe war in Andreas’ Augen höchst unwahrscheinlich. Welches Ziel hätte ein Krieg gegen diese Völker haben können, die in den endlosen Weiten des Ostens lebten? Bestenfalls hätte man die Bekehrung der Heiden als Grund anführen können, aber das alleine wäre ein allzu schwaches Argument gewesen für ein Unternehmen, dessen mögliche Dauer und Ergebnis schlicht nicht absehbar waren.
Was Lombardien betraf, war Andreas sich nicht sicher. Das Königreich jenseits der Donau war nicht mit Wohlstand gesegnet, aber als Arianer hätten die Langobarden für Karl durchaus eine geeignete Zielscheibe abgeben können. Auch gab es dort Gebiete, wo ein Heer schwerer Panzerreiter seine Stärken hätte ausspielen können, das wusste Andreas aus eigener Erfahrung von den Reisen, die er mit seinem Vater vor Jahren dort unternommen hatte. Dagegen sprach allerdings, dass die Langobarden einen furchterregenden Ruf als Verteidiger ihres Landes hatten. Offensiv hatten sie zwar keine großen Qualitäten, das war bei ihrem misslungenen Einfall in das Imperium zweihundertdreißig Jahre zuvor offenbar geworden, doch seitdem hatten sie mehrere Versuche nomadischer Völker aus den Steppen des Ostens, ihr Land zu überrollen, vernichtend abgewiesen. Und ihre Gegner waren oftmals weitaus zahlreicher gewesen, als Andreas es von den Franken annahm. Ein Krieg gegen Lombardien hätte in jedem Falle ein enormes Risiko bedeutet, mit lediglich minimalem Lohn im Erfolgsfalle.
Er gestand es sich nicht gerne ein, aber es sah ganz so aus, als würde sich eine weitere von Marcellus Sators düsteren Prophezeiungen bewahrheiten. Alles schien darauf hinzudeuten, dass Karl sich auf einen Krieg gegen das Imperium vorbereitete. Dass er sich, wenn auch bislang nur im kleinen Kreise, als rechtmäßigen Träger des Kaisertitels bezeichnet hatte, passte ebenso ins Bild wie die Verfolgung der Arianer, die durchaus dazu führen mochte, das Weströmische Reich innerlich zu spalten. Aber alles stand und fiel
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