Die Zeitmaschine Karls des Großen (German Edition)
einiges, was ihn zutiefst verwirrte. Auf dem nachlässig gehobelten Holz lagen zahlreiche Dokumente, teils handschriftlich, teils gedruckt, über den Tisch verteilt und in kleinen Stapeln. Aber am auffälligsten waren für ihn zwei dicke Bücher, von denen er eines umgehend in die Hand nahm und eingehend betrachtete.
An diesem Buch war alles ungewöhnlich. Andreas hatte viele Bücher gelesen, aber noch keines mit einem Einband wie diesem. Fast immer waren Bücher in pergamentüberzogene dicke Pappdeckel gebunden, teure Ausgaben in schwere, reich verzierte Ledereinbände. Dieses Buch hatte keines von beidem. In gewisser Weise ähnelte es auch dem Vorhängeschloss, da hier ebenfalls keine der Spuren festzustellen waren, die bei der Bearbeitung für gewöhnlich zurückblieben. Es hatte fast den Anschein, als handelte es sich überhaupt nicht um das Werk eines Buchbinders, ja nicht einmal um etwas aus Menschenhand.
Das Bild auf dem Einband war nicht minder geheimnisvoll. Es zeigte das Standbild eines Mannes hoch zu Ross, in den Händen ein Schwert und einen Reichsapfel haltend. Auf dem Kopf trug er einen Kronreif, und um die Schultern war ein Mantel drapiert. Das Gesicht dieses Mannes war Andreas wohlvertraut, denn es zierte alle größeren fränkischen Münzen. Er hatte keine Mühe, König Karl darin wiederzuerkennen. Aber noch unheimlicher war die Feinheit, mit der das Bild ausgeführt war, fast wie ein auf magische Weise eingefangener und dann in das Papier eingebrannter Ausschnitt der Realität. Andreas ließ vorsichtig die Fingerspitzen darübergleiten und hielt den Atem an. Nicht die geringste Erhebung, wie sie bei einer Buchmalerei durch den Farbauftrag unvermeidbar gewesen wäre, war spürbar. Und ein Druck konnte es unmöglich sein, weder in Holz noch in Kupfer waren solche Darstellungen möglich.
Über dem Bild Karls zu Pferde standen Worte, mit denen Andreas nach einem ersten flüchtigen Blick nichts anzufangen wusste. Die Wörter waren fremd und unverständlich. Aber dann erkannte er, dass er sich irrte. Der Text enthielt entstellte lateinische Begriffe, und Andreas ging ihn noch einmal konzentriert durch:
CHARLEMAGNE
FRANKISH KING AND ROMAN EMPEROR
HIS LIFE AND HIS WORLD
Edward L. Lindsay, Ph.D.
Es brauchte nicht übermäßig viel Phantasie, um in »Charlemagne« eine arg verstümmelte Form von Carolus Magnus zu sehen. Und ganz bestimmt hatte »Roman Emperor« die Bedeutung Imperator Romanorum. Was die übrigen Worte anging, konnte Andreas über ihren Sinn nur spekulieren, aber diese drei reichten schon voll und ganz aus, um ihn mit einer unbestimmten Mischung aus Beunruhigung und Triumph zu erfüllen. Karl der Große und der römische Kaisertitel … Aethelred musste in enger Verbindung mit Karls Aktivitäten stehen, daran gab es für Andreas nun keinen Zweifel mehr. Er wollte gerade das Buch aufschlagen, als sein Blick auf etwas fiel, das seine Aufmerksamkeit auf der Stelle fesselte: Auf dem Tisch lag, halb verdeckt von anderen Schriftstücken, eine Landkarte Europas.
Er legte das Buch an seinen Platz zurück und zog die Landkarte unter den anderen Dokumenten hervor. Sie war vortrefflich farbig gedruckt, auf feinstem Papier, wie es in beiden Imperien sicher nicht zu finden war. Aber weitaus interessanter war, was sie zeigte.
Vom Ebro in Hispania bis zur Elbe, vom Mare Germanicum bis fast nach Neapolis, ja tief nach Pannonien breitete sich eine lila Fläche aus, gekennzeichnet durch die Worte FRANKISH EMPIRE – Frankenreich! Von den zahlreichen, oft unverständlichen oder barbarisch verzerrten Ortsnamen fiel Andreas einer besonders auf, der in größeren Buchstaben als die übrigen geschrieben war: Aachen (Aix-la-Chapelle). Den Sinn der in Klammern gesetzten Worte verstand Andreas nicht, aber ansonsten sah er klar. Was er hier vor sich hatte, war Karls Vision des Frankenreiches, als dessen künftige Hauptstadt – aus welchen Gründen, mochte Gott alleine wissen – der König Aachen ausersehen hatte. Für das Weströmische Reich schien in Karls Zukunftsplänen kein Platz mehr zu sein, jedenfalls fand sich nicht der kleinste Hinweis auf seine Existenz. Hispania war westlich des Ebro grün gefärbt und als Emirate of Córdoba beschriftet. Lediglich im Norden erschien in Gelb ein Gebiet als Kingdom of Galicia and Asturia. Das ergab für Andreas keinen Sinn, und noch mehr wunderte er sich über die Darstellung des Oströmischen Reiches, das hier bizarrerweise als Byzantine Empire auftauchte. Er
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