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Die Zeitrausch-Trilogie, Band 1: Spiel der Vergangenheit (German Edition)

Die Zeitrausch-Trilogie, Band 1: Spiel der Vergangenheit (German Edition)

Titel: Die Zeitrausch-Trilogie, Band 1: Spiel der Vergangenheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Kestner
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ich mich, hoch oben in einer Astgabel kauernd, leuchtende Schrift über mir: Alison, 6 Jahre , die genauso erstarrt ist wie ich.
    Im selben Moment fällt es mir wieder ein: Ich stromerte mit nackten Füßen durch den Wald, eine Puppe in der Hand, für die ich eine Hütte bauen wollte. Eigentlich war es den Morgen über ein ungewöhnlich sonniger Herbsttag gewesen, fast schwül, aber plötzlich brach ein Gewitter los. Der noch warme Erdboden dampfte unter den Regentropfen und schnell stand ich im brusthohen Nebel. Mir war kalt, das weiß ich noch. Bibbernd floh ich immer tiefer in den Wald, verlor die Orientierung, und als der Donner direkt über mir stand, suchte ich Schutz unter dem dichten Blätterdach einer Baumkrone, in die ich mich wie ein kleines Äffchen flüchtete.
    Das Gewitter verschwand so schnell, wie es gekommen war, aber als ich nach unten klettern wollte, brach das Geäst unter meinem verlagerten Gewicht. Ich schürfte mir das Bein auf, blieb in einer Astgabel hängen und starrte Stunde um Stunde auf den viel zu weit entfernten Waldboden, unfähig mich zu bewegen.
    Von der Bühne höre ich mich jetzt hemmungslos weinen.
    »Ich bin gleich da!« Mein Vater greift nach dem Stamm, versucht sich an der knorrigen Borke festzukrallen, um die viel höher beginnenden Äste zu erreichen. Ächzend zieht er sich Stück für Stück zu mir hoch, umklammert dabei wie ein Koala den Stamm. Als er nach dem untersten Ast greift, knackt es, Dad verliert den Halt, knallt auf den harten Boden zurück. »Herrgott nochmal! - Hör zu, Alison. Ich bin zu schwer, ich komme da nicht rauf. Ich werde jetzt zurückgehen und eine Leiter besorgen.«
    »Bitte lass mich nicht allein … Ich habe Angst, Daddy, dass ich falle!«
    »In Ordnung.« Mein Vater seufzt und fixiert die Baumkrone. »Unter dir ist ein großer Ast. Er wird dich tragen, aber du musst loslassen, um ihn zu erreichen.«
    »Ich kann nicht«, wimmere ich und die Bilder nehmen an Fahrt auf.
    Es wird dunkel. Kegelförmiges Licht einer Taschenlampe, eine Leiter, Nacht, der Schrei einer Eule, Musik, getragen von sanft angeschlagenen Klaviertasten, eine Kerze auf einem Tisch, an dem Mum und Dad sitzen. Ein Restaurant, eindeutig. Aber ich kenne es nicht.
    »Auf unseren zehnten Hochzeitstag.« Dad gießt Mum dunkel schimmernden Rotwein nach. Meine Mutter lacht hell, greift zu dem Glas. »Wer hätte das gedacht. Zehn Jahre und du hast schon keine Haare mehr.«
    »Du bist kein bisschen verwelkt, meine Blume«, nuschelt er, anscheinend schon vom Rotwein berauscht und beugt sich über den Tisch, um Mum zu küssen.
    »Ob es Alison gut geht?«, fragt sie.
    Dad runzelt die Stirn. »Lass uns dieses Wochenende genießen, ja? Nur du und ich und dieses kleine Strandhaus mit dem viel zu breiten Himmelbett, in dem ich dich …«
    »Robert!«, sagt Mum mit gespieltem Entsetzen und kichert. »Du wirst doch nicht …«
    Ihre Stimme verhallt und das Kerzenlicht wird in spiegelndem Blau ertränkt, aus dem Schilfgras wächst. Mitten darin Onkel Herold, der knöcheltief mit mir im Wasser steht. Ich bin elf, meine langen Haare sind zum Pferdeschwanz verknotet und ich wirke schlaksig mit meinen dünnen Beinen in den kurzen Shorts.
    »Wenn du dich ganz langsam bewegst, merkt die Forelle nicht, dass du dich näherst, und du kannst sie einfach aus dem Wasser heben, siehst du?« Onkel Herold schleudert einen großen Fisch ans Ufer, der direkt vor Dads Füßen landet.
    Der sitzt auf einer Wiese und ruft begeistert: »Bravo, Herold! Du hast uns vor dem sicheren Hungertod bewahrt!«
    »Aber den grille ich! Du hast genug Essen in Flammen aufgehen lassen für einen Tag, Robert.« Mein Onkel zwinkert mir zu. »Versuch es weiter. Irgendwann hast du den Trick raus und dann kannst du deine Familie ernähren.« Seine überlangen Gummistiefel verursachen schmatzende Geräusche, als er ans Land watet, und das helle Blau des Wassers wird vom aufgewühlten Schlamm getrübt.
    »Ich hasse Fisch!«, motze ich. »Ich geh jetzt lieber ein bisschen Moos suchen. Damit baue ich Jeremy ein Nest! Du kannst mich ja rufen, wenn du einen Hirsch oder so was gefangen hast.«
    Allein Jeremys Namen zu hören, tut unendlich gut. Er existiert! Und als die Wiese in den Vordergrund der Szene rückt, sehe ich auch die Buchstaben seines Vornamens über dem krabbelnden Kleinkind leuchten, das sich fröhlich glucksend Gänseblümchen in den Mund stopft. Er sieht so vergnügt aus, dass es mir die Eingeweide zusammenzieht, und ich spüre

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