Die Zeitrausch-Trilogie, Band 1: Spiel der Vergangenheit (German Edition)
erst in diesem Augenblick, wie viel mir mein kleiner Bruder bedeutet, jetzt da er so nah und doch nicht da ist.
»Ich werde dich zurückholen«, schwöre ich mir in diesem Moment und mein Entschluss steht fest: »Ich werde kämpfen! Und wenn alles wieder gut ist, werde ich mit dir Eichhörnchen jagen, hörst du?« Tränen verschleiern meine Sicht, als ich wieder zur Bühne blicke.
»Ach, wie lieb! Sieh nur, Susan! Deine Tochter hat ein Himmelbett aus Moos gezaubert.« Es ist Tante Rose, die gerade spricht und meinen Bruder in das Moos setzt. »Rückt mal alle zusammen! Ich mache ein Foto. Komm, Herold!«
»Ich muss den Fisch ausnehmen«, grummelt der, dann verfliegt die Idylle.
Die Ausschnitte werden kürzer. Sie zeigen immer wieder Jeremy und mich. Mal zanken wir uns um eine Hängematte in unserem Garten, dann liegen wir wieder einträchtig unter freiem Himmel und ich zeige auf die Sterne; Jeremy, wie er meine Eltern heulend anfleht einen Eichelhäher behalten zu dürfen, den er verletzt im Wald gefunden hat; ich, wie ich ihm die Tür vor der Nase zuschlage, als er im Begriff ist, matschüberzogen in mein Zimmer zu stürmen. Eine Wasserschlacht im Badezimmer, bei der wir gleichermaßen unseren Spaß haben; ich, mit wütender Miene im Wohnzimmer, weil ich auf Jeremy aufpassen soll, während Mum arbeitet, und deswegen nicht mit Carissa nach Miami Beach fliegen darf.
Oh Gott! Das war letzten Sommer!
Carissas Eltern hatten mich eingeladen und ich hatte mir nichts mehr gewünscht, als einmal aus dem stinklangweiligen Mill Valley herauszukommen.
»Aber ihr müsst doch keinen Penny dafür bezahlen. Für Carissas Eltern ist das echt kein Ding!«, schleudere ich meiner Mum gerade wütend entgegen.
»Deine Mutter geht nicht jede Nacht arbeiten, damit du mit diesen Neureichen in der Sonne braten kannst«, beendet mein Vater, statt ihrer, die Diskussion.
Mein Hier-und-Jetzt-Ich lacht auf bei der Erinnerung: Am gleichen Abend hatte ich mir aus Wut die Haare abgesäbelt, die alle immer so an mir gemocht haben, und beschlossen, mir einen Sommerjob zu besorgen. Daraus sind drei Monate auf Onkel Herolds Apfelplantage geworden, die abseits der Stadt liegt, und auf der ich unzählige Stunden mit schmerzenden Armen Äpfel aus den Bäumen gepflückt habe. Am Ende kamen über zweitausend Dollar zusammen. Aber es folgte ein sehr kalter Herbst, in dem unsere Heizung ausfiel. Mein Vater war beschämt und Mum hat vor Glück geweint, als ich ihr das Geld für die Reparatur in die Hand gedrückt und mir nur einen Friseurbesuch geleistet habe, um meine ruinierten Haare zu retten …
Die letzte Szene zeigt mein Zimmer. Sonnenstrahlen brechen durch die Schlitze der Fensterläden und tanzen über meine Bettdecke, unter der ich zusammengerollt mit dem Kissen auf dem Kopf liege. Mein Handy klingelt. Schlaftrunken taste ich danach, klappe es auf und brülle »Ja?«. Dann halte ich es vom Ohr weg, klettere über mein Bett zum Fenster und öffne die Laden. Mein Kopf wird von den Wörtern Alison, 17 Jahre verfolgt. Die Bilder werden schneller und wenige Sekunden später stehe ich schon in der Küche, meine Mutter reicht mir drei Teller.
»Du meine Güte, das war heute Morgen«, entfährt es mir und ich flüstere ihre Worte mit, an die ich mich zu gut erinnere: »Alison, du hast keinen Bruder. Was ist denn nur los mit dir?«
Mein ungläubiger Blick, meine Verständnislosigkeit, meine sich steigernde Wut und meine Ohnmacht werden gezeigt, als ich das Foto anstarre, auf dem Jeremy in seinem Nest aus Moos sitzen sollte.
Scheinwerferlicht reißt mich in die Realität zurück. Jetzt bin ich wieder Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und schon steht Wum Randy auf der Bühne und spricht mich an.
»So ein Bruder kann ganz schön nerven, was, Alison? Sollen wir ihn vielleicht lieber lassen, wo er ist?« Er lacht laut, das Publikum mit ihm.
»Wo habt ihr Scheißkerle Jeremy hingebracht?«, fauche ich.
Der Moderator schüttelt enttäuscht seinen Kopf, der in der Zwischenzeit mit vielen kleinen Spiegelstücken bedeckt wurde, die auf seiner nachtblau eingefärbten Haut wie Sterne schimmern. »Ich dachte, du hättest mittlerweile begriffen, dass wir nichts mit ihm gemacht haben.«
»Was soll das heißen?«
»Viele kleine Rädchen des Lebens greifen ineinander, Alison. Ein Abend bei Kerzenschein, eine berauschte Nacht in einem Strandhaus, ohne die kleine Alison, die den Abend von Tante Rose gehütet wird und neun Monate später einen Bruder vor die Nase
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