Die Zeitrausch-Trilogie, Band 1: Spiel der Vergangenheit (German Edition)
sehen kann, spüre ich die Wärme seines Körpers und ich wünschte, er würde mich berühren. Nur einen Moment seine Hand auf meinen Arm legen. Mir sagen, dass alles gut wird.
Unter meinen Haarsträhnen spähe ich nach oben, ich möchte sein Gesicht betrachten, ohne dass er es merkt, doch als ich seinem Blick begegne, erschrecke ich. Sein Ausdruck ist kalt, geradezu abweisend. Er wirkt geschäftig, so als hätte er nur einen Job zu erledigen.
»Du solltest dich nicht übergeben.« Seine Stimme klingt ernst, aber ohne einen Hauch von Mitgefühl. »Es ist wichtig, dass du die Flüssigkeit bei dir behältst, umso länger bleibt dir die Dehydration erspart.«
Ohne dass ich es verhindern kann, schießt mir Schamröte ins Gesicht. Meine verworrenen Gefühle für ihn sind mir unangenehm, jetzt, da klar ist, was er von mir erwartet: nicht kotzen, schnell auf die Beine kommen, funktionieren.
»Das ist gut, dein Gesicht zeigt wieder Farbe.« Mit einem Satz ist Kay auf den Beinen und reicht mir die Hand.
Ich sehe immer noch leicht verschwommen, erkenne aber, dass seine Hand schlank ist, gebräunt, nein verdreckt … Die Konturen werden plötzlich klarer und jetzt begreife ich, dass es kein Dreck ist, der seine offene Handfläche zeichnet: Es sind feine Blutstropfen, die sich bis über seine Finger sprenkeln.
»Bist du okay?« Da ich ehrlich besorgt bin, zwinge ich mich, ihm in die Augen zu sehen. »Hast du noch Schmerzen?«
»Schmerzen?« Er zieht die Brauen hoch.
»Ich dachte … auf der Bühne. Sie haben dir doch wehgetan. Du hast geblutet, an der Lippe, als du …« Ich gerate ins Stocken.
»Da war nichts«, antwortet er kalt. »Steh auf.«
Wütend über mich selbst, über mein offenkundiges Interesse an ihm, komme ich auf die Beine und drehe mich vorsichtig im Kreis, um mich zu orientieren. Es ist Sommer, wahrscheinlich später Vormittag, denn die Sonne brennt aus dem wolkenlosen Himmel, ohne dass die großen Bäume um uns herum lange Schatten werfen würden. Ich stehe am Rand eines flachen Baches, dessen feuchter Geruch von dem Duft gegrillten Fleisches überlagert wird. Schnuppernd halte ich die Nase in die leichte Brise, die das Aroma einer köstlichen Grillmarinade zu mir herüberträgt. Erst jetzt merke ich, dass ich Hunger habe, und entdecke unter den weit herabhängenden Ästen einer Trauerweide zwei Jungs flussabwärts, die auf einer Picknickdecke sitzend dabei zusehen, wie ihr Vater große Rippenstücke auf einem Grill wendet. Gleich daneben steht ein holzumfasster Mülleimer. Wespen umschwirren ihn gierig. Etwas weiter entdecke ich Lilien, die in blaugelber Blütenpracht das geschwungene Bachbett sprenkeln. Ein Pärchen watet Händchen haltend und mit hochgekrempelten Hosenbeinen durch das Wasser und auf einer Steinmauer direkt hinter mir sitzt ein älterer Mann mit Hut und großer Hornbrille, der uns über seine Zeitung hinweg beäugt. All diese Details nehme ich überdeutlich wahr, muss sie aber wie ein Puzzle zusammensetzen, um zu verstehen, dass ich mich in einem Waldstück oder einem naturbelassenen Park befinde.
»Ein Park, Sommer, Menschen … Wo bin …« Plötzlich verfliegt meine Desorientiertheit, wie der Moment zwischen Schlaf und Erwachen, und ich bin vollkommen da. Das Areal erschließt sich mir jetzt als Ganzes: Nicht weit von mir steht ein großer Nadelbaum, der seine knorrigen Arme fächerartig von sich streckt, und ich weiß, dass Dad mich gerügt hätte, denn ich kenne den Namen des Baumes nicht, aber ich kenne ihn. Er steht vor einer Steinbrücke, die den Bach an der Stelle überspannt, wo er zu einem strudelnden Gewässer wird, durchbrochen von großen Steinen, über die Jeremy jedes Mal hüpft, wenn Dad uns die Geschichte von Mill Valley erzählt. Denn kurz hinter der Brücke fällt das seichte Gelände rapide ab und zwischen den dicht gedrängten Redwood-Bäumen steht die Nachbildung der ersten Sägemühle, der Mill Valley seinen Namen zu verdanken hat.
Ich bin zu Hause! Nur eine knappe halbe Stunde von unserem Häuschen entfernt, den Weg könnte ich mit verschlossenen Augen finden, so oft waren wir hier.
»Kommt dir etwas bekannt vor, Alison?«, fragt mich Kay in diesem Moment und ich zucke unwillkürlich zusammen.
»Wir sind in Mill Valley, im Old Mill Park, er ist …« Ein Piepen schneidet mir das Wort ab, doch bevor ich meine Hand öffnen kann, spricht Kay schon die Worte aus, die auch auf seinem Marker aufleuchten.
»Verbleibende Zeit: Zwölf Stunden 47 Minuten 38
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