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Die Zeitstraße

Die Zeitstraße

Titel: Die Zeitstraße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Mahr
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ich auf dem Herzen trug, und machte mich auf den Weg.
    Fünf Tage meiner individuellen Zeitrechnung war ich unterwegs, bis ich das große Feld erreichte, auf dem die metallenen Pfeile standen. Zuerst wenigstens hielt ich sie für Pfeile, gigantische Pfeile allerdings, zehn und mehr Häuser hoch und mit einem Gefieder, das aus solidem Metall bestand. Es war früh am Morgen gewesen, als ich von Kaltheons Palast aufbrach, und früh am Morgen war es auch jetzt noch. Ich bewegte mich seitwärts durch die Zeit. Die Zeit, die andere Menschen wahrnahmen, schien für mich stillzustehen. Ich habe die Zusammenhänge nie verstanden; aber die Art und Weise, wie sie sich auswirkten, nahm ich an, ohne mich dagegen zu sträuben.
    Auf dem riesigen Platz standen reglos Hunderte, Tausende von Wesen der gleichen Art wie der spitzohrige Fremde am Hofe Kaltheons. Bevor ich das Zauberwort »Kenan« sprach, hatte auf diesem Feld rege Aktivität geherrscht. Und noch etwas sah ich, als ich auf dem Felde umherging: Dicht über dem westlichen Rand des Platzes hing ein kleinerer Metallpfeil, auch der allerdings immer noch so groß wie drei oder vier Häuser, reglos in der Luft, mit der Spitze senkrecht nach oben und aus seinem rückwärtigen Ende rötlichen Qualm speiend. Das Erlebnis fiel mir ein, das ich in jener Nacht an Saimas Seite gehabt hatte, und ich begann zu glauben, daß es sich bei den Pfeilen, wie ich sie nannte, um die Wolkenschiffe der Thubalkainer handelte.
    Ein halbes Jahr individueller Zeitrechnung verbrachte ich auf dem Platz der Thubalkainer. Ich nährte mich von ihrem Proviant, trank von ihrem Wasser und versuchte, ihre Geheimnisse zu ergründen. Zu Anfang war alles verwirrend für mich, und manches Mal war ich nahe daran aufzugeben. Allmählich aber gewann ich einen Überblick, und schließlich begann ich gar zu durchschauen, was sich hinter der technischen Überlegenheit des Königreiches Atalan verbarg. Die Fremden, lernte ich verstehen, waren nicht von dieser Welt. Sie waren keine Menschen wie wir. Sie kamen weither, womöglich von den Sternen. Ihr Volk war älter als das unsere oder irgendein anderes Volk auf dieser Welt, und weil es älter war, hatte es noch mehr als wir gelernt, sich die Natur Untertan zu machen. Seine Werkzeuge bestanden aus dem feinsten Metall, so daß ihnen Wind und Wetter nichts anzuhaben vermochten. Seine Fahrzeuge wurden nicht mehr von Zugtieren bewegt, sondern von ungeheuerlichen, geheimnisvollen Kräften – wie die Schiffe der Atalaner, wenn der Wind nicht blies.
    Warum die Fremden die Atalaner von ihrem Wissen zehren ließen, erfuhr ich nicht. Vielleicht war es als Gegenleistung dafür, daß sie auf atalanischem Boden dieses riesige Feld hatten einrichten dürfen, auf dem ihre Wolkenschiffe starteten und landeten. Ich wußte nun, daß nicht die Atalaner unsere wirklichen Feinde waren, sondern die Thubalkainer. Gelang es uns, sie zu vertreiben, dann war Atalan nicht mächtiger als irgendeines der Königreiche an den Küsten des Westlichen Meeres, und es würde keinem atalanischen König einfallen, die Unterwerfung dieser Königreiche zu planen.
    Und noch etwas lernte ich. Die Thubalkainer bewahrten nicht, wie wir, ihr Wissen in ihren Köpfen auf. Das lag wahrscheinlich daran, daß sie mehr Wissen besaßen, als in einen menschlichen Schädel paßt. Sie hatten eine Methode entwickelt, Worte und Laute durch Zeichen darzustellen. Diese Zeichen malten sie auf einen Stoff, der sich wie ungeheuer dünne Tierhaut anfühlte. Hunderte, manchmal Tausende Stücke von Haut waren zusammengebündelt und bildeten Speicher, die mehr Wissen enthielten als die Gehirne aller Weisen der neunundzwanzig Königreiche zusammengenommen.
    Von da an wußte ich, welches mein nächstes Ziel sein mußte. Wenn ich das Reich der Sethiter vor dem Untergang retten wollte, mußte ich lernen, die Zeichen der Thubalkainer zu verstehen.
     
    Drei Jahre blieb ich am Hofe des Königs von Atalan – so wenigstens meinte er. Meine Federuhr jedoch zählte in dieser Zeit einhundertundneunzehntausend Halbtage oder einhundertundfünfundsechzig Jahre. In der Zwischenzeit alterte ich in den Augen meiner Umgebung zum dreißigjährigen Manne, also um sieben Jahre mehr, als ich gealtert wäre, wenn ich ein normales Leben geführt hätte. Die Leute führten es auf das schlemmerhafte, untätige Leben zurück, das wir Fürstensöhne an Kaltheons Hof führten.
    In diesen einhundertundfünfundsechzig Jahren lernte ich, Sprache und Schrift der

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