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Die Zeitstraße

Die Zeitstraße

Titel: Die Zeitstraße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Mahr
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Ich prägte mir das Bild des Hofes ein – die hölzernen Karren, auf denen das Getreide in Säcken lag, die trägen Zugtiere, die in die Sonne blinzelten und in stets gleichbleibendem Rhythmus ihre Mäuler bewegten, und die Knechte, die eifrig hin und her rannten, da das Auge des Königs auf ihnen ruhte.
    Dann sprach ich das Zauberwort:
    »Kenan …!«
     
    Auf den ersten Blick schien sich nichts geändert zu haben. Einen halben Atemzug später jedoch traf mich wie ein Schlag die Erkenntnis dessen, was geschehen war. Die Wagen standen immer noch reglos; aber die Zugtiere hatten aufgehört wiederzukäuen, und die eiligen Knechte waren mitten in der Bewegung erstarrt. Verblüfft blickte ich zur Seite, und da stand mein Vater Henoch, ein eingefrorenes Lächeln auf dem Gesicht, ebenso reglos wie die Knechte.
    Die Ärzte hatten mir anvertraut, daß die Operation, die mich um ein Haar das Leben gekostet hätte, mit meinem Zeitempfinden zu tun habe. Während der normale Mensch den Ablauf der Zeit als eine einförmige, stets in derselben Richtung und mit derselben Geschwindigkeit erfolgende Bewegung empfand, war mir – und vor mir allen Königen der Sethiter – die Fähigkeit gegeben, mich in andere Zeitabläufe hineinzuversetzen. Die Operation war notwendig, um hemmende Einflüsse des Bewußtseins, die diese Fähigkeit überdeckten, zu entfernen. Jetzt, da sie mir zur Verfügung stand, genügte ein Zauberwort, um sie zu aktivieren.
    Mit langsamen Schritten ging ich auf dem Hof umher. Ich meinte, da die Zeit stillzustehen schien, daß der Boden, auf dem ich ging, und die Dinge, die ich berührte, eine andere Konsistenz haben müßten als sonst. Aber der Boden war fest wie sonst, und als ich zu einem der Wagen kam und einen der Getreidesäcke berührte, da gab das grobe Material dem Druck meines Fingers nach, als die Getreidekörner im Innern des Sackes sich neu verteilten. Ich schritt auf einen der Knechte zu. Er war ohne Last aus dem Vorratsturm gekommen und auf dem Weg zum Wagen gewesen, als ich das Zauberwort sprach. Er bot einen erschreckenden Anblick, den Mund keuchend aufgerissen, den Blick starr auf den Wagen gerichtet, dicke Schweißtropfen auf der Stirn. Ich berührte einen der Tropfen. Er hatte die klebrige, zähe Konsistenz menschlichen Schweißes. Er hätte weiter über die Stirn des Knechts herabrollen und auf die Erde fallen können, aber er tat es nicht, als sei für ihn die Schwerkraft aufgehoben.
    Ich stieß den Knecht an. Er stand nicht besonders sicher, da er gerade den rechten Fuß vom Boden gehoben hatte, um einen Schritt zu tun. Er gab dem Druck meiner Schulter sofort nach und stürzte rücklings zu Boden, ohne dabei die Haltung des Körpers zu ändern. Da kehrte ich zu meinem Vater zurück, der am Rande des Hofes stand. Ich wandte mich so, daß ich den Knecht, der infolge meines Stoßes gestürzt war, genau im Auge hatte. Dann sprach ich das zweite der Zauberworte:
    »Lamech …!«
    In diesem Augenblick fuhr es mir wie ein Schleier vor die Augen. Ich konnte nicht sehen, was mit dem gestürzten Knecht geschah. Als der Schleier verschwand, war schon alles wieder in Bewegung, wie zuvor, als sei inzwischen gar nichts geschehen.
    Ich muß ziemlich verblüfft dreingeschaut haben, denn Henoch, mein Vater, lächelte, als ich mich zu ihm wandte.
    »Hast du gesehen, wie einer der Knechte stürzte?« sprudelte ich hervor.
    Er verneinte.
    »Warum? Hast du einen umgeworfen?«
    »Ja.«
    Da legte er mir die Hand auf die Schulter und sagte:
    »Methusalah, du wirst in den kommenden Jahren viel lernen müssen. Es gibt viele Wege, wie du deine Gabe nützen kannst. Wenn du das Zauberwort sprichst, begibst du dich in einen anderen Zeitstrom. Dieser Strom fließt in einer anderen Richtung als derjenige, den unser Bewußtsein normalerweise wahrnimmt. Du kannst in diesem fremden Zeitstrom Handlungen vollbringen wie sonst auch, aber sobald du das zweite Zauberwort sprichst, kehrst du in den ursprünglichen Strom zurück, und nichts, was du in dem anderen Strom verrichtetest, hat nun mehr Gültigkeit.«
     
    Als ich zwanzig Jahre alt war, im Jahre 707 seit Adams Fall, machte ich mich auf die große Reise nach Atalan. Atalan galt als das Zentrum der Welt. Die Herrscher der umliegenden Reiche hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, ihre erstgeborenen Söhne, sobald sie ein gewisses Alter erreicht hatten, auf einige Jahre an den Hof des atalanischen Königs zu schicken, damit sie sich dort in Weltgewandtheit übten und lernten,

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