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Die Zeitstraße

Die Zeitstraße

Titel: Die Zeitstraße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Mahr
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wie es am Hofe eines Mächtigen zuging.
    Auch die sethitischen Könige hatten diesen Brauch angenommen. Von meinen Ahnen hatte jeder, von Enos angefangen bis herab zu Henoch, meinem Vater, wenigstens drei Jahre am Hofe von Atalan zugebracht. Mit diesen drei Jahren, oder wieviel auch immer es im Einzelfall gewesen sein mögen, hatte es jedoch eine besondere Bewandtnis. Die drei Jahre waren die Zeitspanne, die nach Ansicht des Königs von Atalan zwischen der Ankunft und der Abreise des sethitischen Fürstensohnes verstrichen war. Der Fürstensohn jedoch hatte von der Dauer seines Aufenthalts in Atalan einen ganz anderen Eindruck, wie man sich vorstellen konnte. Denn seine Aufgabe war in erster Linie, seine ungewöhnliche Begabung zu nutzen, um hinter die Geheimnisse der atalanischen Technik und Kriegskunst zu kommen.
    Während des Aufenthalts im fremden Zeitstrom verstrich auch für ihn die Zeit. Schon frühzeitig hatte man erkannt, daß der Sethiter als Kundschafter am Hofe von Atalan, wenn er im fremden Zeitstrom seiner Aufgabe nachging, ein Meßgerät brauchte, mit dessen Hilfe er den Ablauf seiner Individualzeit kontrollieren konnte. Denn dort, wo er sich bewegte, gab es die natürliche Folge von Tag und Nacht nicht mehr. Wenn er jedoch Gesundheit und Tatkraft bewahren wollte, dann war es nötig, daß er dem Körper in regelmäßigen Abständen Ruhe gönnte. Nun hatte einer der Ärzte des Königs Enos eine Art Uhr erfunden, die den Pulsschlag ertastete und zählte. Ihr wichtigster Bestandteil war eine Feder, die durch Aufziehen gespannt werden konnte und bei jedem Herzschlag einen Teil ihrer Spannung verlor. Sie war so konstruiert, daß, wenn sie abgelaufen war, das Herz etwa sechzigtausendmal geschlagen hatte. Das Herz eines Durchschnittsmenschen machte im Tag zwischen 110 000 und 120 000 Schläge. Die Uhr zeigte also den Ablauf eines halben Tages an. War die Feder völlig entspannt, so löste sie mit dem Haken an ihrem Ende einen Mechanismus aus, der eine kleine Glocke zum Anschlagen brachte. Das ganze Gerät war nicht besonders groß. Man konnte es bequem auf der Brust tragen. Auch ich war mit einer solchen Uhr ausgestattet.
    Die Erfahrung hatte gezeigt, daß die sethitischen Prinzen, während sie im fremden Zeitstrom arbeiteten, kaum alterten. Jahr um Jahr arbeiteten sie, wie Henoch sich ausdrückte, »seitwärts der Zeit«, ohne daß ihr Körper nennenswert an Alter gewann. So kam es, daß meine Vorfahren, nach ihrer Individualität gemessen, ohne Ausnahme wesentlich älter geworden waren, als normale Menschen zu werden vermochten. Ihrer Umgebung allerdings fiel das nicht auf; denn den größten Teil ihres Lebens verbrachten sie in dem fremden Zeitstrom, im Dienste der Sache des sethitischen Königreiches. Die Chronik der Sethiter jedoch hielt das Lebensalter der Könige fest, wie sie selbst es gemessen hatten.
    Meine Reise ging zunächst bis an die westliche Grenze des sethitischen Reiches, dann über den Fluß Buranunuu hinweg ins Land der Jabaliter. Dieses reicht bis an die Küste des Westlichen Meeres, wo wir einundzwanzig Tage nach unserem Aufbruch anlangten. In meiner Begleitung befanden sich Lehrer und Soldaten des sethitischen Reiches, wie es sich für den Kronprinzen gebührte. In Henoch, der alten Stadt, die Kain gebaut hatte, erwarb ich ein Boot für die Fahrt nach Atalan. Mitsamt den Ruderern, die mir der Eigentümer gleich mitverkaufte, kostete es mich die Hälfte der goldenen und silbernen Tauschwaren, die mein Vater mir mit auf die Reise gegeben hatte. Von dem Rest war wiederum die Hälfte als Geschenke für den mächtigen König von Atalan bestimmt.
    Die Reise durch das westliche Meer nahm zwei Monate in Anspruch. Schließlich kamen wir durch eine Landenge hinaus auf ein anderes Meer, von dem die Schiffer behaupteten, es sei unendlich viel größer als das Westliche Meer, welches wir soeben in seiner gesamten Länge durchquert hatten. Nach weiteren drei Tagen sichteten wir von neuem Land. Es war die östliche Küste von Atalan, die vor uns aus dem Wasser wuchs. Wir liefen einen Hafen an, der Sappron-Ti hieß. Ich hatte gehofft, mein Schiff dort wieder verkaufen zu können. Aber als ich die Seefahrzeuge der Atalaner sah, schwanden mir alle Hoffnungen. Sie waren einigemal größer als mein armseliges Boot. Sie bedurften der Ruderer nicht, denn es genügte ihnen zum Antrieb der Wind, und wenn der nicht blies, dann bedienten sie sich einer geheimnisvollen Kraft, die ihre Fahrzeuge wie von

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