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Die Zeitung - Ein Nachruf

Die Zeitung - Ein Nachruf

Titel: Die Zeitung - Ein Nachruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Fleischhacker
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die amerikanischen Zeitungen durch den Bürgerkrieg (1861–1865): Hatte es 1860 in den Vereinigten Staaten 3.000 Zeitungen gegeben, so waren es 1870 bereits 4.500 und 1880 7.000. Der Amerikanische Bürgerkrieg gilt als der erste „moderne Krieg“ mit Tendenzen zum „totalen“ Krieg, die vor allem der Nordstaatengeneral William T. Sherman favorisierte. Es ist auch der erste Krieg, aus dem Fotos existieren, etwa jenes von in der Schlacht von Antietam gefallenen Konföderationssoldaten im September 1862. Damals konnten die Nordstaaten unter Präsident Abraham Lincoln erstmals den Vormarsch des Südstaatengenerals Robert E. Lee stoppen. Der Bürgerkrieg brachte eine ziemlich brutale Professionalisierung des Journalistenberufs mit sich: Wer sich zuverlässige Informationen aus erster Hand besorgen wollte, arbeitete unter furchtbaren Bedingungen und musste bei jedem Wechsel zwischen den Linien damit rechnen, als Spion gefangengenommen zu werden.
    Auch in Europa gab es Ende des 19. Jahrhunderts, unter den vergleichsweise angenehmen Bedingungen des „Goldenen Medienzeitalters“, einen journalistischen Professionalisierungsschub. Journalismus war immer als Nebenbeschäftigung ausgeübt worden: In der Frühzeit verdienten sich Drucker und Postmeister etwas dazu, indem sie die „einkommenden Nachrichten“ vervielfältigten, später schickten Verwaltungsbeamte ihre Korrespondenzen einmal auf dem Dienstweg an ihre Vorgesetzten und ein weiteres Mal gegen Bezahlung an die Zeitungsherausgeber, später publizierten Gelehrte und Professoren, Revolutionäre und Dichter ihr Wissen und ihre politischen Vorstellungen. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aber wurde Journalismus zum Vollzeitberuf. Und dieser Beruf drückte wie kaum ein andere die Ambivalenzen des Zeitalters zwischen existenzieller Unsicherheit und unbändigem Fortschrittsglauben aus.

    Er hat bis heute Gültiges über die Ambivalenzen des journalistischen Berufsbildes gesagt: der Soziologe Max Weber (1864–1920).
    Max Weber hat diese Ambivalenz in seinem Münchener Vortrag
Politik als Beruf
im Januar 1919 auf heute noch gültige Weise zusammengefasst. „Gerade an den erfolgreichen Journalisten“, sagte er dort, „werden besonders schwierige innere Anforderungen gestellt. Es ist durchaus keine Kleinigkeit, in den Salons der Mächtigen der Erde auf scheinbar gleichem Fuß, und oft allgemein umschmeichelt, weil gefürchtet, zu verkehren und dabei zu wissen, dass, wenn man kaum aus der Tür ist, der Hausherr sich vielleicht wegen seines Verkehrs mit den ‚Pressebengeln‘ bei seinen Gästen rechtfertigen muss –, wie es erst recht keine Kleinigkeit ist, über alles und jedes, was ‚der Markt‘ gerade verlangt, über alle denkbaren Probleme des Lebens, sich prompt und dabei überzeugend äußern zu sollen, ohne nicht nur der absoluten Verflachung, sondern vor allem der Würdelosigkeit der Selbstentblößung und ihren unerbittlichen Folgen zu verfallen.“ 31
    Mit der Professionalisierung – die allerdings weder in den USA noch in Europa zur Etablierung von Ausbildungsstätten führte, hier wie da passierte das erst im 20. Jahrhundert – bildeten sich auch Unterschiede zwischen dem angelsächsischen und dem kontinentaleuropäischen Berufsverständnis, das man am knappsten mit „news versus views“ zusammenfassen kann: Briten und Amerikaner entwickelten sich eher in Richtung Nachrichtenorientierung und Bürgervertretung, die Kontinentaleuropäer übernahmen den belehrenden Stil der Obrigkeit. Zwar verheimlichten auch die amerikanischen Verleger und Spitzenjournalisten ihre parteipolitischen Neigungen nicht, aber erstens war ihre Position dennoch deutlich unabhängiger als die ihrer kontinentaleuropäischen Kollegen, zweitens erforderte der zunehmende Erfolg immer mehr Zurückhaltung.
    Die Werbeeinnahmen machten inzwischen selbst bei klassischen Zeitungen wie der Londoner
Times
mehr als die Hälfte der Erlöse aus, die vorderen Seiten waren schon damals so sehr davon dominiert, wie das bis auf den heutigen Tag der Fall ist (in der
New York Times
ist das nicht anders). Ähnliches galt für die deutschen Partei- und Gesinnungsorgane. Und natürlich etablierte sich rasch das kulturkritische Tableau, demzufolge die Zeitungen wegen ihrer Abhängigkeit von den Anzeigen ein „Herd der Korruption“ seien. Damals wie heute freilich muss man sich fragen, ob es nicht gerade umgekehrt ist – ob nicht jene Medien für Korruption anfälliger sind, die sich eben

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